Syllabus zur Staatsreligion erhoben ist und mit Wiener und Pariser Diplo¬ maten allen Ernstes darüber verhandelt wird, den preußischen Staat wiederum in das Marquisat von Brandenburg zu verwandeln -- erst dann, aber sicher nicht früher, wird den guten Leuten und schlechten Musikanten, welche heute den Chorus der Harleß, Lucas u. s. w. bilden, das Verständniß darüber aufgehen, was mit dem Geschrei nach bayrischen Selbstbestimmungsrecht eigent¬ lich gemeint ist.
Leider stehen die Dinge in München nicht schlimm genug, als daß auf diese rettende Eventualität bereits gerechnet werden könnte. In Berlin Hot man nicht aufgehört, auf die Bundesgenossenschaft der ehrlichen Leute in München Werth zu legen und so bleibt uns nichts übrig, als jenem politischen Carne- val geduldig zuzusehen und gelegentlich mit Behagen zu registriren, daß es nicht noch schlimmer geht und daß Herr T. oder Dr. U- in der zweiten Kammer ein kräftiges Wort geredet haben, das den Muth der Minorität wieder gehoben!
Inzwischen machen die Wirkungen dieses Schauspiels sich in der Lethargie bemerkbar, die allmälig die Zuschauer des Nordens ergreift und das Schaffen am eigenen Heerde hemmt. Der preußische Landtag ist geschlossen worden, ohne daß das Zustandekommen der Kreisordnung gesichert worden wäre und das Herrenhaus hat sich vor Schluß der Session noch ein Mal als der Hauptsitz des gefährlichsten preußischen Particularismus bekannt. In Sachsen, wo die zweite Kammer einen kräftigen Anlauf gegen die Ueberreste des alten Systems nehmen zu wollen schien, ist der Austrag der Hauptfragen schließlich an der Charakterlosigkeit und gewohnheitsmäßigen Abhängigkeit unserer halben Freunde gescheitert und der Zusammentritt des Reichstags wurde durch eine dreitägige Beschlußunfähigkeit inaugurirt. So complicirt ist der Mechanis¬ mus unserer Bundesmaschine, so gewaltig der Anspruch, der an die Arbeits¬ kraft der Volksvertreter namentlich Preußens gestellt wird, daß die Thätig¬ keit derselben starker aufregender Impulse verlangt, um auf ihrer Höhe zu blei¬ ben, daß ruhige Tage ihnen am unersprießlichsten sind. -- Der Nachdruck, den die Thronrede auf das Verhältniß zum Süden gelegt hatte, machte es wahr¬ scheinlich, daß die Bundesregierung von der Reichsvertretung ein energisches Be¬ kenntniß zu dem Programm von 1866 erwarte und daß dieses die ins Stocken gerathene Bewegung der Gemüther für eine Weile in neuen Fluß setzen werde. Daß dem nicht so war, hat das Geschick der von den Freiconservativen an¬ geregten Adresse bewiesen. Ob man wohl eine definitive Entschließung des Südens abwartet, ehe man aus der bisherigen Passivität heraustritt? Zu hoffen bleibt nur. daß die Pläne der schwäbischen Volkspartei sich verwirk¬ lichen und dem Faß den Boden einschlagen. Daß auf dem Wege freund¬ lichen und geduldigen Avwartens nichts erreicht werden kann, steht für uns
Grenjboten I. 1S70. 45
Syllabus zur Staatsreligion erhoben ist und mit Wiener und Pariser Diplo¬ maten allen Ernstes darüber verhandelt wird, den preußischen Staat wiederum in das Marquisat von Brandenburg zu verwandeln — erst dann, aber sicher nicht früher, wird den guten Leuten und schlechten Musikanten, welche heute den Chorus der Harleß, Lucas u. s. w. bilden, das Verständniß darüber aufgehen, was mit dem Geschrei nach bayrischen Selbstbestimmungsrecht eigent¬ lich gemeint ist.
Leider stehen die Dinge in München nicht schlimm genug, als daß auf diese rettende Eventualität bereits gerechnet werden könnte. In Berlin Hot man nicht aufgehört, auf die Bundesgenossenschaft der ehrlichen Leute in München Werth zu legen und so bleibt uns nichts übrig, als jenem politischen Carne- val geduldig zuzusehen und gelegentlich mit Behagen zu registriren, daß es nicht noch schlimmer geht und daß Herr T. oder Dr. U- in der zweiten Kammer ein kräftiges Wort geredet haben, das den Muth der Minorität wieder gehoben!
Inzwischen machen die Wirkungen dieses Schauspiels sich in der Lethargie bemerkbar, die allmälig die Zuschauer des Nordens ergreift und das Schaffen am eigenen Heerde hemmt. Der preußische Landtag ist geschlossen worden, ohne daß das Zustandekommen der Kreisordnung gesichert worden wäre und das Herrenhaus hat sich vor Schluß der Session noch ein Mal als der Hauptsitz des gefährlichsten preußischen Particularismus bekannt. In Sachsen, wo die zweite Kammer einen kräftigen Anlauf gegen die Ueberreste des alten Systems nehmen zu wollen schien, ist der Austrag der Hauptfragen schließlich an der Charakterlosigkeit und gewohnheitsmäßigen Abhängigkeit unserer halben Freunde gescheitert und der Zusammentritt des Reichstags wurde durch eine dreitägige Beschlußunfähigkeit inaugurirt. So complicirt ist der Mechanis¬ mus unserer Bundesmaschine, so gewaltig der Anspruch, der an die Arbeits¬ kraft der Volksvertreter namentlich Preußens gestellt wird, daß die Thätig¬ keit derselben starker aufregender Impulse verlangt, um auf ihrer Höhe zu blei¬ ben, daß ruhige Tage ihnen am unersprießlichsten sind. — Der Nachdruck, den die Thronrede auf das Verhältniß zum Süden gelegt hatte, machte es wahr¬ scheinlich, daß die Bundesregierung von der Reichsvertretung ein energisches Be¬ kenntniß zu dem Programm von 1866 erwarte und daß dieses die ins Stocken gerathene Bewegung der Gemüther für eine Weile in neuen Fluß setzen werde. Daß dem nicht so war, hat das Geschick der von den Freiconservativen an¬ geregten Adresse bewiesen. Ob man wohl eine definitive Entschließung des Südens abwartet, ehe man aus der bisherigen Passivität heraustritt? Zu hoffen bleibt nur. daß die Pläne der schwäbischen Volkspartei sich verwirk¬ lichen und dem Faß den Boden einschlagen. Daß auf dem Wege freund¬ lichen und geduldigen Avwartens nichts erreicht werden kann, steht für uns
Grenjboten I. 1S70. 45
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Syllabus zur Staatsreligion erhoben ist und mit Wiener und Pariser Diplo¬
maten allen Ernstes darüber verhandelt wird, den preußischen Staat wiederum
in das Marquisat von Brandenburg zu verwandeln — erst dann, aber sicher
nicht früher, wird den guten Leuten und schlechten Musikanten, welche heute
den Chorus der Harleß, Lucas u. s. w. bilden, das Verständniß darüber
aufgehen, was mit dem Geschrei nach bayrischen Selbstbestimmungsrecht eigent¬
lich gemeint ist.
Leider stehen die Dinge in München nicht schlimm genug, als daß auf
diese rettende Eventualität bereits gerechnet werden könnte. In Berlin Hot man
nicht aufgehört, auf die Bundesgenossenschaft der ehrlichen Leute in München
Werth zu legen und so bleibt uns nichts übrig, als jenem politischen Carne-
val geduldig zuzusehen und gelegentlich mit Behagen zu registriren, daß es nicht
noch schlimmer geht und daß Herr T. oder Dr. U- in der zweiten Kammer ein
kräftiges Wort geredet haben, das den Muth der Minorität wieder gehoben!
Inzwischen machen die Wirkungen dieses Schauspiels sich in der Lethargie
bemerkbar, die allmälig die Zuschauer des Nordens ergreift und das Schaffen
am eigenen Heerde hemmt. Der preußische Landtag ist geschlossen worden, ohne
daß das Zustandekommen der Kreisordnung gesichert worden wäre und das
Herrenhaus hat sich vor Schluß der Session noch ein Mal als der Hauptsitz
des gefährlichsten preußischen Particularismus bekannt. In Sachsen, wo die
zweite Kammer einen kräftigen Anlauf gegen die Ueberreste des alten Systems
nehmen zu wollen schien, ist der Austrag der Hauptfragen schließlich an der
Charakterlosigkeit und gewohnheitsmäßigen Abhängigkeit unserer halben
Freunde gescheitert und der Zusammentritt des Reichstags wurde durch eine
dreitägige Beschlußunfähigkeit inaugurirt. So complicirt ist der Mechanis¬
mus unserer Bundesmaschine, so gewaltig der Anspruch, der an die Arbeits¬
kraft der Volksvertreter namentlich Preußens gestellt wird, daß die Thätig¬
keit derselben starker aufregender Impulse verlangt, um auf ihrer Höhe zu blei¬
ben, daß ruhige Tage ihnen am unersprießlichsten sind. — Der Nachdruck, den
die Thronrede auf das Verhältniß zum Süden gelegt hatte, machte es wahr¬
scheinlich, daß die Bundesregierung von der Reichsvertretung ein energisches Be¬
kenntniß zu dem Programm von 1866 erwarte und daß dieses die ins Stocken
gerathene Bewegung der Gemüther für eine Weile in neuen Fluß setzen werde.
Daß dem nicht so war, hat das Geschick der von den Freiconservativen an¬
geregten Adresse bewiesen. Ob man wohl eine definitive Entschließung des
Südens abwartet, ehe man aus der bisherigen Passivität heraustritt? Zu
hoffen bleibt nur. daß die Pläne der schwäbischen Volkspartei sich verwirk¬
lichen und dem Faß den Boden einschlagen. Daß auf dem Wege freund¬
lichen und geduldigen Avwartens nichts erreicht werden kann, steht für uns
Grenjboten I. 1S70. 45
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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/359>, abgerufen am 25.01.2025.
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