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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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ist, welche am mächtigsten und fruchtbarsten wirkt und zweitens, daß die
nationale Industrie diejenige ist, welche ohne Schutz sich soweit entwickeln
kann, daß sie ihre Erzeugnisse über den Erdkreis ergießt. Und über diesen
ökonomischen Wahrheiten steht eine große moralische Wahrheit, daß man
nämlich, je mehr man die Handelsfreiheit begünstigt, um so mehr auch die
Annäherung der Völker fördert, indem man ihre Interessen solidarisch macht."

Aber warum überließ das Ministerium diese Vertheidigung seinen Vor¬
gängern? warum erhob sich nur Ollivier zu einer matten Vertheidigung der
Nichtkündigung des englischen Vertrags, welche im Grunde jeder als un¬
möglich erkannte? Offenbar deshalb, weil man in dieser Frage nicht einig ist,
weil Louvet-Se'gris, Büffet und Daru zu den Schutzzöllnern hinneigen. Es
mag zu weit gehen, wenn einige behaupten, daß das Cabinet schon innerlich
in der Auflösung begriffen sei, aber wir wiederholen, daß wir nicht an ein
langes Leben desselben glauben. Die großen Majoritäten, die es hat, beweisen
nichts, das Land und noch mehr die Kammer fühlen, daß auf der Existenz
dieses Ministeriums die ganze Chance einer parlamentarischen Regierung
ruht, kein anderes wirklich verantwortliches Cabinet ist möglich, wenn dieses
fällt. Wenn dies aber geschieht und die Kammer kein anderes regierungs¬
fähiges Ministerium zu Stande bringen kann, so muß der Kaiser wieder selbst
die Zügel in die Hand nehmen. Frankreich aber steht dann an der Alter¬
native einer neuen Demüthigung unter das persönliche Regiment oder der
Revolution. Wählt es die erstere, so wird der Rückschlag um so gewaltiger
werden, wenn einst mit Napoleons Tode der Imperialismus fällt, siegt die
letztere, so stürzt das Land in ein neues unabsehbares Chaos.




Die Noth der Rittergutsbesitzer in Mecklenburg.

Heut nimmt der Mecklenburgische Landtag seine Sitzungen in Sternberg
wieder auf. Die letzten Wochen, die Zeit des sogenannten Antonitermins
hat die Gutsbesitzer und Bürgermeister durch anderweitige Sorgen be¬
schäftigt. Während noch bis vor verhältnißmäßig kurzer Zeit die Hypotheken
ritterschaftlicher Güter ganz besonders begehrt waren und jederzeit leicht be-


ist, welche am mächtigsten und fruchtbarsten wirkt und zweitens, daß die
nationale Industrie diejenige ist, welche ohne Schutz sich soweit entwickeln
kann, daß sie ihre Erzeugnisse über den Erdkreis ergießt. Und über diesen
ökonomischen Wahrheiten steht eine große moralische Wahrheit, daß man
nämlich, je mehr man die Handelsfreiheit begünstigt, um so mehr auch die
Annäherung der Völker fördert, indem man ihre Interessen solidarisch macht."

Aber warum überließ das Ministerium diese Vertheidigung seinen Vor¬
gängern? warum erhob sich nur Ollivier zu einer matten Vertheidigung der
Nichtkündigung des englischen Vertrags, welche im Grunde jeder als un¬
möglich erkannte? Offenbar deshalb, weil man in dieser Frage nicht einig ist,
weil Louvet-Se'gris, Büffet und Daru zu den Schutzzöllnern hinneigen. Es
mag zu weit gehen, wenn einige behaupten, daß das Cabinet schon innerlich
in der Auflösung begriffen sei, aber wir wiederholen, daß wir nicht an ein
langes Leben desselben glauben. Die großen Majoritäten, die es hat, beweisen
nichts, das Land und noch mehr die Kammer fühlen, daß auf der Existenz
dieses Ministeriums die ganze Chance einer parlamentarischen Regierung
ruht, kein anderes wirklich verantwortliches Cabinet ist möglich, wenn dieses
fällt. Wenn dies aber geschieht und die Kammer kein anderes regierungs¬
fähiges Ministerium zu Stande bringen kann, so muß der Kaiser wieder selbst
die Zügel in die Hand nehmen. Frankreich aber steht dann an der Alter¬
native einer neuen Demüthigung unter das persönliche Regiment oder der
Revolution. Wählt es die erstere, so wird der Rückschlag um so gewaltiger
werden, wenn einst mit Napoleons Tode der Imperialismus fällt, siegt die
letztere, so stürzt das Land in ein neues unabsehbares Chaos.




Die Noth der Rittergutsbesitzer in Mecklenburg.

Heut nimmt der Mecklenburgische Landtag seine Sitzungen in Sternberg
wieder auf. Die letzten Wochen, die Zeit des sogenannten Antonitermins
hat die Gutsbesitzer und Bürgermeister durch anderweitige Sorgen be¬
schäftigt. Während noch bis vor verhältnißmäßig kurzer Zeit die Hypotheken
ritterschaftlicher Güter ganz besonders begehrt waren und jederzeit leicht be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/322>, abgerufen am 27.09.2024.