Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

selbständige und nationale Modifikation der lateinischen Schrift und verdient
schon deshalb den Namen einer deutschen ebenso gut als viele andere Er¬
findungen der deutschen Wissenschaft und Kunst. Oder dürfen wir etwa die
eigenthümliche Ausbildung der Gothik in Deutschland auch nicht mehr deut¬
schen Baustil nennen? Die Vorwürfe, welche man der deutschen Druckschrift
macht, sind zum Theil ungerecht. Es ist wahr, sie bietet für die eigenthüm¬
lichen deutschen Laute keine besonderen Zeichen, denn ß und w verrathen noch
immer ihren Ursprung aus römischen Doppelbuchstaben, und es, sah, ez, die
wenigstens zum Theil alle einfache Laute unserer Sprache bezeichnen, sind
ganz in lateinischer Weise aus zwei, drei Consonanten zusammengefügt.
Indeß sind diese zusammengesetzten Buchstaben in unserer deutschen Fractur-
schrift dem Auge doch noch wohlgefälliger als in der runden lateinischen
Schrift, in welcher Wörter wie: äasx, räusedcden ganz unerträglich aussehen.
Wenn ferner Grimm meint, "schon das mache die deutsche Schrift verwerf¬
lich, daß sie nicht alle Lautunterschiede darzustellen vermöge, daß ihr z. B. in
der Majuskel I und ^ zusammenfalle, daß ihr in der Minuskel W, c", L
mangle, daß sie vollends keine Accente, keine Circumflexe gewähre" -- so
scheint er in seinem Eifer, Mängel unserer Schrift aufzudecken, ganz außer
Acht gelassen zu haben, daß wir die letzteren Unterschiede ja auch dann nicht
bezeichnen, wenn wir uns für moderne Sprache der lateinischen Schrift be¬
dienen. Oder schreibt nicht etwa Grimm selbst auch in der lateinischen
Schrift liilläsr, mäolitö> Ul-gs, wäre, wie wir in der Fracturschrift nur
Länder, Mächte, läge, wäre kennen? Wo hat er jemals in seinem Deutsch
zwischen I^nÄLi-, lullodte und Iss^e, wWrö unterschieden oder borg, Kette,
LolivsSster u, s. w. gedruckt? Wo finden sich bei ihm Accente? Wie kann
man also unsere jetzige Druckschrift sür verwerflich halten, weil sie das nicht
auszudrücken gewohnt ist, wozu in moderner Sprache überhaupt kein Be¬
dürfniß vorhanden ist?

Braucht die Schrift Zeichen sür Unterschiede, die einer früheren Sprach¬
periode, z. B. dem Mittelhochdeutschen, angehören, so wird man sich mit Fug
an die lateinische Schrift halten und diese nach den Bedürfnissen der fremden
Sprache mit neuen Zeichen und Buchstaben versehen, z. B. für M, tu, sx.
Für solche scharfe und genaue Bezeichnung der Laute in einer todten oder
aus fremdartiger Schrift transponirten Sprache ist die lateinische Schrift,
trotz ihrer Buchstabenarmuth, in der ganzen civilisirten Welt gebräuchlich
worden, sie wird auch bei altdeutschen Sprachdenkmälern recht passend das
Auge und den Sinn zwingen, die Laute und den Inhalt der Worte schärfer
in ihrer Besonderheit zu fassen.

Aber die deutsche Fracturschrift soll nach Grimm nicht nur aus den an¬
geführten Gründen verwerflich, sondern auch "unförmlich und das Auge be-
"


12

selbständige und nationale Modifikation der lateinischen Schrift und verdient
schon deshalb den Namen einer deutschen ebenso gut als viele andere Er¬
findungen der deutschen Wissenschaft und Kunst. Oder dürfen wir etwa die
eigenthümliche Ausbildung der Gothik in Deutschland auch nicht mehr deut¬
schen Baustil nennen? Die Vorwürfe, welche man der deutschen Druckschrift
macht, sind zum Theil ungerecht. Es ist wahr, sie bietet für die eigenthüm¬
lichen deutschen Laute keine besonderen Zeichen, denn ß und w verrathen noch
immer ihren Ursprung aus römischen Doppelbuchstaben, und es, sah, ez, die
wenigstens zum Theil alle einfache Laute unserer Sprache bezeichnen, sind
ganz in lateinischer Weise aus zwei, drei Consonanten zusammengefügt.
Indeß sind diese zusammengesetzten Buchstaben in unserer deutschen Fractur-
schrift dem Auge doch noch wohlgefälliger als in der runden lateinischen
Schrift, in welcher Wörter wie: äasx, räusedcden ganz unerträglich aussehen.
Wenn ferner Grimm meint, „schon das mache die deutsche Schrift verwerf¬
lich, daß sie nicht alle Lautunterschiede darzustellen vermöge, daß ihr z. B. in
der Majuskel I und ^ zusammenfalle, daß ihr in der Minuskel W, c», L
mangle, daß sie vollends keine Accente, keine Circumflexe gewähre" — so
scheint er in seinem Eifer, Mängel unserer Schrift aufzudecken, ganz außer
Acht gelassen zu haben, daß wir die letzteren Unterschiede ja auch dann nicht
bezeichnen, wenn wir uns für moderne Sprache der lateinischen Schrift be¬
dienen. Oder schreibt nicht etwa Grimm selbst auch in der lateinischen
Schrift liilläsr, mäolitö> Ul-gs, wäre, wie wir in der Fracturschrift nur
Länder, Mächte, läge, wäre kennen? Wo hat er jemals in seinem Deutsch
zwischen I^nÄLi-, lullodte und Iss^e, wWrö unterschieden oder borg, Kette,
LolivsSster u, s. w. gedruckt? Wo finden sich bei ihm Accente? Wie kann
man also unsere jetzige Druckschrift sür verwerflich halten, weil sie das nicht
auszudrücken gewohnt ist, wozu in moderner Sprache überhaupt kein Be¬
dürfniß vorhanden ist?

Braucht die Schrift Zeichen sür Unterschiede, die einer früheren Sprach¬
periode, z. B. dem Mittelhochdeutschen, angehören, so wird man sich mit Fug
an die lateinische Schrift halten und diese nach den Bedürfnissen der fremden
Sprache mit neuen Zeichen und Buchstaben versehen, z. B. für M, tu, sx.
Für solche scharfe und genaue Bezeichnung der Laute in einer todten oder
aus fremdartiger Schrift transponirten Sprache ist die lateinische Schrift,
trotz ihrer Buchstabenarmuth, in der ganzen civilisirten Welt gebräuchlich
worden, sie wird auch bei altdeutschen Sprachdenkmälern recht passend das
Auge und den Sinn zwingen, die Laute und den Inhalt der Worte schärfer
in ihrer Besonderheit zu fassen.

Aber die deutsche Fracturschrift soll nach Grimm nicht nur aus den an¬
geführten Gründen verwerflich, sondern auch „unförmlich und das Auge be-
"


12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121854"/>
          <p xml:id="ID_256" prev="#ID_255"> selbständige und nationale Modifikation der lateinischen Schrift und verdient<lb/>
schon deshalb den Namen einer deutschen ebenso gut als viele andere Er¬<lb/>
findungen der deutschen Wissenschaft und Kunst. Oder dürfen wir etwa die<lb/>
eigenthümliche Ausbildung der Gothik in Deutschland auch nicht mehr deut¬<lb/>
schen Baustil nennen? Die Vorwürfe, welche man der deutschen Druckschrift<lb/>
macht, sind zum Theil ungerecht. Es ist wahr, sie bietet für die eigenthüm¬<lb/>
lichen deutschen Laute keine besonderen Zeichen, denn ß und w verrathen noch<lb/>
immer ihren Ursprung aus römischen Doppelbuchstaben, und es, sah, ez, die<lb/>
wenigstens zum Theil alle einfache Laute unserer Sprache bezeichnen, sind<lb/>
ganz in lateinischer Weise aus zwei, drei Consonanten zusammengefügt.<lb/>
Indeß sind diese zusammengesetzten Buchstaben in unserer deutschen Fractur-<lb/>
schrift dem Auge doch noch wohlgefälliger als in der runden lateinischen<lb/>
Schrift, in welcher Wörter wie: äasx, räusedcden ganz unerträglich aussehen.<lb/>
Wenn ferner Grimm meint, &#x201E;schon das mache die deutsche Schrift verwerf¬<lb/>
lich, daß sie nicht alle Lautunterschiede darzustellen vermöge, daß ihr z. B. in<lb/>
der Majuskel I und ^ zusammenfalle, daß ihr in der Minuskel W, c», L<lb/>
mangle, daß sie vollends keine Accente, keine Circumflexe gewähre" &#x2014; so<lb/>
scheint er in seinem Eifer, Mängel unserer Schrift aufzudecken, ganz außer<lb/>
Acht gelassen zu haben, daß wir die letzteren Unterschiede ja auch dann nicht<lb/>
bezeichnen, wenn wir uns für moderne Sprache der lateinischen Schrift be¬<lb/>
dienen. Oder schreibt nicht etwa Grimm selbst auch in der lateinischen<lb/>
Schrift liilläsr, mäolitö&gt; Ul-gs, wäre, wie wir in der Fracturschrift nur<lb/>
Länder, Mächte, läge, wäre kennen? Wo hat er jemals in seinem Deutsch<lb/>
zwischen I^nÄLi-, lullodte und Iss^e, wWrö unterschieden oder borg, Kette,<lb/>
LolivsSster u, s. w. gedruckt? Wo finden sich bei ihm Accente? Wie kann<lb/>
man also unsere jetzige Druckschrift sür verwerflich halten, weil sie das nicht<lb/>
auszudrücken gewohnt ist, wozu in moderner Sprache überhaupt kein Be¬<lb/>
dürfniß vorhanden ist?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_257"> Braucht die Schrift Zeichen sür Unterschiede, die einer früheren Sprach¬<lb/>
periode, z. B. dem Mittelhochdeutschen, angehören, so wird man sich mit Fug<lb/>
an die lateinische Schrift halten und diese nach den Bedürfnissen der fremden<lb/>
Sprache mit neuen Zeichen und Buchstaben versehen, z. B. für M, tu, sx.<lb/>
Für solche scharfe und genaue Bezeichnung der Laute in einer todten oder<lb/>
aus fremdartiger Schrift transponirten Sprache ist die lateinische Schrift,<lb/>
trotz ihrer Buchstabenarmuth, in der ganzen civilisirten Welt gebräuchlich<lb/>
worden, sie wird auch bei altdeutschen Sprachdenkmälern recht passend das<lb/>
Auge und den Sinn zwingen, die Laute und den Inhalt der Worte schärfer<lb/>
in ihrer Besonderheit zu fassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_258" next="#ID_259"> Aber die deutsche Fracturschrift soll nach Grimm nicht nur aus den an¬<lb/>
geführten Gründen verwerflich, sondern auch &#x201E;unförmlich und das Auge be-<lb/>
"</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 12</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] selbständige und nationale Modifikation der lateinischen Schrift und verdient schon deshalb den Namen einer deutschen ebenso gut als viele andere Er¬ findungen der deutschen Wissenschaft und Kunst. Oder dürfen wir etwa die eigenthümliche Ausbildung der Gothik in Deutschland auch nicht mehr deut¬ schen Baustil nennen? Die Vorwürfe, welche man der deutschen Druckschrift macht, sind zum Theil ungerecht. Es ist wahr, sie bietet für die eigenthüm¬ lichen deutschen Laute keine besonderen Zeichen, denn ß und w verrathen noch immer ihren Ursprung aus römischen Doppelbuchstaben, und es, sah, ez, die wenigstens zum Theil alle einfache Laute unserer Sprache bezeichnen, sind ganz in lateinischer Weise aus zwei, drei Consonanten zusammengefügt. Indeß sind diese zusammengesetzten Buchstaben in unserer deutschen Fractur- schrift dem Auge doch noch wohlgefälliger als in der runden lateinischen Schrift, in welcher Wörter wie: äasx, räusedcden ganz unerträglich aussehen. Wenn ferner Grimm meint, „schon das mache die deutsche Schrift verwerf¬ lich, daß sie nicht alle Lautunterschiede darzustellen vermöge, daß ihr z. B. in der Majuskel I und ^ zusammenfalle, daß ihr in der Minuskel W, c», L mangle, daß sie vollends keine Accente, keine Circumflexe gewähre" — so scheint er in seinem Eifer, Mängel unserer Schrift aufzudecken, ganz außer Acht gelassen zu haben, daß wir die letzteren Unterschiede ja auch dann nicht bezeichnen, wenn wir uns für moderne Sprache der lateinischen Schrift be¬ dienen. Oder schreibt nicht etwa Grimm selbst auch in der lateinischen Schrift liilläsr, mäolitö> Ul-gs, wäre, wie wir in der Fracturschrift nur Länder, Mächte, läge, wäre kennen? Wo hat er jemals in seinem Deutsch zwischen I^nÄLi-, lullodte und Iss^e, wWrö unterschieden oder borg, Kette, LolivsSster u, s. w. gedruckt? Wo finden sich bei ihm Accente? Wie kann man also unsere jetzige Druckschrift sür verwerflich halten, weil sie das nicht auszudrücken gewohnt ist, wozu in moderner Sprache überhaupt kein Be¬ dürfniß vorhanden ist? Braucht die Schrift Zeichen sür Unterschiede, die einer früheren Sprach¬ periode, z. B. dem Mittelhochdeutschen, angehören, so wird man sich mit Fug an die lateinische Schrift halten und diese nach den Bedürfnissen der fremden Sprache mit neuen Zeichen und Buchstaben versehen, z. B. für M, tu, sx. Für solche scharfe und genaue Bezeichnung der Laute in einer todten oder aus fremdartiger Schrift transponirten Sprache ist die lateinische Schrift, trotz ihrer Buchstabenarmuth, in der ganzen civilisirten Welt gebräuchlich worden, sie wird auch bei altdeutschen Sprachdenkmälern recht passend das Auge und den Sinn zwingen, die Laute und den Inhalt der Worte schärfer in ihrer Besonderheit zu fassen. Aber die deutsche Fracturschrift soll nach Grimm nicht nur aus den an¬ geführten Gründen verwerflich, sondern auch „unförmlich und das Auge be- " 12

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/99
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/99>, abgerufen am 24.08.2024.