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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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soph des 19. Jahrhunderts hätte schreiben körinen und dann diese Drama¬
tiker lobt, daß sie die Tragödie verjüngt, indem sie den Personen des
antiken Vorwurfs Geist, Sitte und Anstand ihres Jahrhunderts mitgetheilt,
sie gleichsam zu ihren Zeitgenossen gemacht; und indem sie dem Fatum die
Politik, den Götteclaunen die allgemeinen Interessen, dem Ringen des Menschen
mit dem Schicksal die Kämpfe der Leidenschaft mit den unerbittlichen Gesetzen
der Gesellschaft substituirt, wodurch sie die erste moderne geworden, -- so ist
es ja gerade die Kleinlichkeit dieser Motive im Verhältniß zu jenen ge¬
waltigen Mächten, die Verzopfung der Antike, die Hohlheit der Gesellschaft von
Ludwigs des XIV. Gnaden und ihres Anstands, was wir nicht verzeihen und
weswegen wir die französische Tragödie nimmermehr als legitime Tochter
der antiken anerkennen werden, selbst auf die Gefahr hin, womit er uns
droht: den Titel der philosophischen Nation zu verlieren, der übrigens in
dem Munde der großen Nation immer nur ein zweideutiges Lob gewesen.
Verkehrt ist ebenso, wenn Cherbuliez uns einreden will, Shakespeare sei von
Lessing, wo er ihn besonders hervorhebt, meist nur als Werkzeug gegen die
Alleinherrschaft der Franzosen gebraucht worden; wäre er der Gott seines
Jahrhunderts gewesen, so würde Lessing den großen Briten angegriffen, ihm
seine gedrechselten Metaphern, die Witze seiner Clowns, seine Rohheiten,
Theatercoups. Todtschlägereien, das Auge Glosters, die Fürsten mit dem
Lastträgerdtalel't. die Bauern, welche im ersten Act geboren, im fünften ge¬
hangen werden, mit Schärfe vorgerückt haben. Es ist leicht antworten, daß
der wahrhaft kunstsinnige Kritiker zunächst über Auffassung und Anlage des
Kunstwerks entscheidet und die Geißelung solcher Unarten erst da am Platze
ist, wo äußerer Prunk ein schiefes oder enges Grundmotiv verdecken soll,
oder wo das verfehlte Detail zugleich die Gebrechen der Gesammtauffassung
kennzeichnet, wie es den französischen Tragikern so oft passirt. Bei alledem
bekennen wir, daß gerade der Aufsatz über Lessing trotz dieser dramaturgischen
Ungereimtheiten durch die Gründlichkeit, mit der er in die Intentionen un¬
serer deutschen Classiker einzudringen sucht, und die Aufrichtigkeit, mit welcher
er sie ehrt, Anerkennung verdient. Wenn er auch nach einer Richtung die
stärkste Opposition hervorruft, so gibt er dafür z. B. in der Darstellung des
Theoiogenstreits evidente neue Wahrheiten, und das ganze Charakterbild ist
mit den frischesten Farben gemalt.

In ebenso gediegenen Aufsätzen hat Cherbuliez nach jenem ersten Vor¬
spiel über die Antike, worin er sich mit den Fragen über Eklekticismus,
Realismus und Idealismus, Classit und Romantik auseinandersetzt. 1863 im
"Fürsten Vitale", und 1866 im "dei-truck Oeuvre" seine künstlerischen und ge-
schichtsphilosophischen Ansichten weiter entwickelt und zugleich die Tendenz
seiner Romane tiefer begründet. Die erstere dieser beiden Schriften gibt


soph des 19. Jahrhunderts hätte schreiben körinen und dann diese Drama¬
tiker lobt, daß sie die Tragödie verjüngt, indem sie den Personen des
antiken Vorwurfs Geist, Sitte und Anstand ihres Jahrhunderts mitgetheilt,
sie gleichsam zu ihren Zeitgenossen gemacht; und indem sie dem Fatum die
Politik, den Götteclaunen die allgemeinen Interessen, dem Ringen des Menschen
mit dem Schicksal die Kämpfe der Leidenschaft mit den unerbittlichen Gesetzen
der Gesellschaft substituirt, wodurch sie die erste moderne geworden, — so ist
es ja gerade die Kleinlichkeit dieser Motive im Verhältniß zu jenen ge¬
waltigen Mächten, die Verzopfung der Antike, die Hohlheit der Gesellschaft von
Ludwigs des XIV. Gnaden und ihres Anstands, was wir nicht verzeihen und
weswegen wir die französische Tragödie nimmermehr als legitime Tochter
der antiken anerkennen werden, selbst auf die Gefahr hin, womit er uns
droht: den Titel der philosophischen Nation zu verlieren, der übrigens in
dem Munde der großen Nation immer nur ein zweideutiges Lob gewesen.
Verkehrt ist ebenso, wenn Cherbuliez uns einreden will, Shakespeare sei von
Lessing, wo er ihn besonders hervorhebt, meist nur als Werkzeug gegen die
Alleinherrschaft der Franzosen gebraucht worden; wäre er der Gott seines
Jahrhunderts gewesen, so würde Lessing den großen Briten angegriffen, ihm
seine gedrechselten Metaphern, die Witze seiner Clowns, seine Rohheiten,
Theatercoups. Todtschlägereien, das Auge Glosters, die Fürsten mit dem
Lastträgerdtalel't. die Bauern, welche im ersten Act geboren, im fünften ge¬
hangen werden, mit Schärfe vorgerückt haben. Es ist leicht antworten, daß
der wahrhaft kunstsinnige Kritiker zunächst über Auffassung und Anlage des
Kunstwerks entscheidet und die Geißelung solcher Unarten erst da am Platze
ist, wo äußerer Prunk ein schiefes oder enges Grundmotiv verdecken soll,
oder wo das verfehlte Detail zugleich die Gebrechen der Gesammtauffassung
kennzeichnet, wie es den französischen Tragikern so oft passirt. Bei alledem
bekennen wir, daß gerade der Aufsatz über Lessing trotz dieser dramaturgischen
Ungereimtheiten durch die Gründlichkeit, mit der er in die Intentionen un¬
serer deutschen Classiker einzudringen sucht, und die Aufrichtigkeit, mit welcher
er sie ehrt, Anerkennung verdient. Wenn er auch nach einer Richtung die
stärkste Opposition hervorruft, so gibt er dafür z. B. in der Darstellung des
Theoiogenstreits evidente neue Wahrheiten, und das ganze Charakterbild ist
mit den frischesten Farben gemalt.

In ebenso gediegenen Aufsätzen hat Cherbuliez nach jenem ersten Vor¬
spiel über die Antike, worin er sich mit den Fragen über Eklekticismus,
Realismus und Idealismus, Classit und Romantik auseinandersetzt. 1863 im
„Fürsten Vitale", und 1866 im „dei-truck Oeuvre" seine künstlerischen und ge-
schichtsphilosophischen Ansichten weiter entwickelt und zugleich die Tendenz
seiner Romane tiefer begründet. Die erstere dieser beiden Schriften gibt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/79>, abgerufen am 03.07.2024.