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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Eine wirkliche Entscheidung wird freilich erst möglich sein, wenn die Zu¬
kunft Oestreichs sich geklärt hat, denn die engen Beziehungen dieses Staats
zu den orientalischen und zu den deutschen Dingen bildet immer wieder die
Brücke zwischen preußischen und russischen Interessen, wenn diese auseinander
zu fallen drohen. Die unaufhörlich wiederkehrenden Krisen der inneren östrei¬
chischen Politik üben jedesmal auf die auswärtigen Verhältnisse des Kaiserstaats
entscheidenden Einfluß, denn dieser Staat umfaßt Völkerstämme, welche bei
allen seinen Nachbarn Blutsverwandte und Freunde haben. -- Möglich, daß
die Krisis, welche gegenwärtig vor der Thür steht, in ihren weiteren Folgen
bereits die entscheidende sein wird. Die Thronrede, mit welcher Franz Joseph
den Reichsrath eröffnete, ließ freilich nicht durchsehen, daß das System
welches im Frühjahr 1868 so hoffnungsvoll inaugurirt worden, bereits über¬
lebt und von den eigenen Freunden aufgegeben sei. Aber es bedürfte ihres
Zeugnisses nicht erst, um den Wienern zu sagen, daß die letzte Stunde der
bisherigen Verfassung geschlagen habe. In Galizien wird das System des Dua¬
lismus und der einheitlichen Vertretung aller cisleithanischen Länder von
allen Parteien, die überhaupt mitzureden haben verworfen; die Resolutionen,
welche die Polen dem Reichsrath neuerdings übergeben, sind, wenn sie es
auch nicht ausdrücklich sagen, mit dem reinen Dualismus unvereinbar. Wie
die Polen und Ruthenen Galiziens denken auch die übrigen östreichischen
Slaven, mögen sie zur westlichen oder zur östlichen Reichshälfte gehören.
Im steynschen Landtage haben sie der Regierungspartei schon bei ihrem
ersten Austreten Schwierigkeiten bereitet; die Landtage von Böhmen und
Mähren haben alle Bedeutung verloren, weil die Czechen sich von ihnen fern
halten, die Deutschen sich als den schwächeren Theil fühlen -- die serbischen
Bewohner Dalmatiens sind in offenem Aufstande; allenthalben steht die
ultramontane Partei mit dem Föderalismus im Bunde, in Tirol repräsentier
sie -- einige städtische Oasen ausgenommen -- das ganze Land. Und dazu
kommen noch unaufhörliche Streitigkeiten und Kabalen zwischen den Gliedern
der cisleithanischen Regierung, stille, aber erbitterte Händel derselben mit dem
Reichskanzler! Nirgend hat man den Freunden Vertrauen, den Gegnern Furcht
einzuflößen vermocht. Aus Galizien erfahren wir, daß die deutschen Pro¬
fessoren der Universität Lemberg die Auflösung und Verlegung dieser Stif¬
tung Josephs II. nach Salzburg verlangen, weil sie den Untergang der dorti¬
gen deutschen Colonie und die UnHaltbarkeit der eigenen Position voraussehen
und der unausbleiblichen Polonisirung der deutschen Hochschule deren Schließung
vorziehen. Es sind die Polen und Ruthenen, welche auf die Erhaltung dieser
deutschen Stiftung dringen, weil sie überzeugt sind, dieselbe mit der Zeit in
ihre Hände zu bekommen. Die Ohnmacht des deutschen Elements in Böhmen
und Mähren ist wesentlich dadurch genährt worden, daß dasselbe nicht in
der Lage war, auf dauernde und energische Unterstützung der Regierung zu


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Eine wirkliche Entscheidung wird freilich erst möglich sein, wenn die Zu¬
kunft Oestreichs sich geklärt hat, denn die engen Beziehungen dieses Staats
zu den orientalischen und zu den deutschen Dingen bildet immer wieder die
Brücke zwischen preußischen und russischen Interessen, wenn diese auseinander
zu fallen drohen. Die unaufhörlich wiederkehrenden Krisen der inneren östrei¬
chischen Politik üben jedesmal auf die auswärtigen Verhältnisse des Kaiserstaats
entscheidenden Einfluß, denn dieser Staat umfaßt Völkerstämme, welche bei
allen seinen Nachbarn Blutsverwandte und Freunde haben. — Möglich, daß
die Krisis, welche gegenwärtig vor der Thür steht, in ihren weiteren Folgen
bereits die entscheidende sein wird. Die Thronrede, mit welcher Franz Joseph
den Reichsrath eröffnete, ließ freilich nicht durchsehen, daß das System
welches im Frühjahr 1868 so hoffnungsvoll inaugurirt worden, bereits über¬
lebt und von den eigenen Freunden aufgegeben sei. Aber es bedürfte ihres
Zeugnisses nicht erst, um den Wienern zu sagen, daß die letzte Stunde der
bisherigen Verfassung geschlagen habe. In Galizien wird das System des Dua¬
lismus und der einheitlichen Vertretung aller cisleithanischen Länder von
allen Parteien, die überhaupt mitzureden haben verworfen; die Resolutionen,
welche die Polen dem Reichsrath neuerdings übergeben, sind, wenn sie es
auch nicht ausdrücklich sagen, mit dem reinen Dualismus unvereinbar. Wie
die Polen und Ruthenen Galiziens denken auch die übrigen östreichischen
Slaven, mögen sie zur westlichen oder zur östlichen Reichshälfte gehören.
Im steynschen Landtage haben sie der Regierungspartei schon bei ihrem
ersten Austreten Schwierigkeiten bereitet; die Landtage von Böhmen und
Mähren haben alle Bedeutung verloren, weil die Czechen sich von ihnen fern
halten, die Deutschen sich als den schwächeren Theil fühlen — die serbischen
Bewohner Dalmatiens sind in offenem Aufstande; allenthalben steht die
ultramontane Partei mit dem Föderalismus im Bunde, in Tirol repräsentier
sie — einige städtische Oasen ausgenommen — das ganze Land. Und dazu
kommen noch unaufhörliche Streitigkeiten und Kabalen zwischen den Gliedern
der cisleithanischen Regierung, stille, aber erbitterte Händel derselben mit dem
Reichskanzler! Nirgend hat man den Freunden Vertrauen, den Gegnern Furcht
einzuflößen vermocht. Aus Galizien erfahren wir, daß die deutschen Pro¬
fessoren der Universität Lemberg die Auflösung und Verlegung dieser Stif¬
tung Josephs II. nach Salzburg verlangen, weil sie den Untergang der dorti¬
gen deutschen Colonie und die UnHaltbarkeit der eigenen Position voraussehen
und der unausbleiblichen Polonisirung der deutschen Hochschule deren Schließung
vorziehen. Es sind die Polen und Ruthenen, welche auf die Erhaltung dieser
deutschen Stiftung dringen, weil sie überzeugt sind, dieselbe mit der Zeit in
ihre Hände zu bekommen. Die Ohnmacht des deutschen Elements in Böhmen
und Mähren ist wesentlich dadurch genährt worden, daß dasselbe nicht in
der Lage war, auf dauernde und energische Unterstützung der Regierung zu


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[0491] Eine wirkliche Entscheidung wird freilich erst möglich sein, wenn die Zu¬ kunft Oestreichs sich geklärt hat, denn die engen Beziehungen dieses Staats zu den orientalischen und zu den deutschen Dingen bildet immer wieder die Brücke zwischen preußischen und russischen Interessen, wenn diese auseinander zu fallen drohen. Die unaufhörlich wiederkehrenden Krisen der inneren östrei¬ chischen Politik üben jedesmal auf die auswärtigen Verhältnisse des Kaiserstaats entscheidenden Einfluß, denn dieser Staat umfaßt Völkerstämme, welche bei allen seinen Nachbarn Blutsverwandte und Freunde haben. — Möglich, daß die Krisis, welche gegenwärtig vor der Thür steht, in ihren weiteren Folgen bereits die entscheidende sein wird. Die Thronrede, mit welcher Franz Joseph den Reichsrath eröffnete, ließ freilich nicht durchsehen, daß das System welches im Frühjahr 1868 so hoffnungsvoll inaugurirt worden, bereits über¬ lebt und von den eigenen Freunden aufgegeben sei. Aber es bedürfte ihres Zeugnisses nicht erst, um den Wienern zu sagen, daß die letzte Stunde der bisherigen Verfassung geschlagen habe. In Galizien wird das System des Dua¬ lismus und der einheitlichen Vertretung aller cisleithanischen Länder von allen Parteien, die überhaupt mitzureden haben verworfen; die Resolutionen, welche die Polen dem Reichsrath neuerdings übergeben, sind, wenn sie es auch nicht ausdrücklich sagen, mit dem reinen Dualismus unvereinbar. Wie die Polen und Ruthenen Galiziens denken auch die übrigen östreichischen Slaven, mögen sie zur westlichen oder zur östlichen Reichshälfte gehören. Im steynschen Landtage haben sie der Regierungspartei schon bei ihrem ersten Austreten Schwierigkeiten bereitet; die Landtage von Böhmen und Mähren haben alle Bedeutung verloren, weil die Czechen sich von ihnen fern halten, die Deutschen sich als den schwächeren Theil fühlen — die serbischen Bewohner Dalmatiens sind in offenem Aufstande; allenthalben steht die ultramontane Partei mit dem Föderalismus im Bunde, in Tirol repräsentier sie — einige städtische Oasen ausgenommen — das ganze Land. Und dazu kommen noch unaufhörliche Streitigkeiten und Kabalen zwischen den Gliedern der cisleithanischen Regierung, stille, aber erbitterte Händel derselben mit dem Reichskanzler! Nirgend hat man den Freunden Vertrauen, den Gegnern Furcht einzuflößen vermocht. Aus Galizien erfahren wir, daß die deutschen Pro¬ fessoren der Universität Lemberg die Auflösung und Verlegung dieser Stif¬ tung Josephs II. nach Salzburg verlangen, weil sie den Untergang der dorti¬ gen deutschen Colonie und die UnHaltbarkeit der eigenen Position voraussehen und der unausbleiblichen Polonisirung der deutschen Hochschule deren Schließung vorziehen. Es sind die Polen und Ruthenen, welche auf die Erhaltung dieser deutschen Stiftung dringen, weil sie überzeugt sind, dieselbe mit der Zeit in ihre Hände zu bekommen. Die Ohnmacht des deutschen Elements in Böhmen und Mähren ist wesentlich dadurch genährt worden, daß dasselbe nicht in der Lage war, auf dauernde und energische Unterstützung der Regierung zu 61-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/491>, abgerufen am 24.08.2024.