Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Gefahr aufmerksam, daß der französische Bauer, der von Natur sparsam
bis zum Geiz ist, wenn er sich wirklich als Herr fühle, leicht dahin kommen
könne, die zum Staatshaushalte nothwendigen Mittel zu weigern. "Er könnte
geneigt sein, den Staat zu behandeln wie mein berühmter Landsmann, der
Gascogner, sein Pferd behandelte, als er beschlossen hatte, das arme Thier
zu gewöhnen, ohne Essen zu leben."

Dem Lande werden gegenübergestellt die Städte. Wenn man einige
Handels- und Fabrikstädte ersten Ranges, wie Marseille und Bordeaux,
Lyon und Se. Etienne, einige alte Provinzialmittelpunkte. wie Nismes,
Toulouse, Brest ausnimmt, so liegt über denselben eine tödtliche Einförmig¬
keit, ein bleierner Schlummer der Indifferenz. Jede Classe lebt getrennt von
der andern für sich abgeschieden. Die Arbeiter stehen meist unter republi¬
kanischen Einflüssen, die durch das gemeinsame Leben in den Cabarets ge¬
nährt werden, sie neigen namentlich zu socialistischen Theorien, der Haß gegen
die Reichen, der Krieg gegen das Capital, die Staatshilfe, die Aufhebung der
Familie werden in diesen Kreisen offen gepredigt. Ihnen gegenüber steht die
Bourgeoisie, den vernünftigeren, aber auch furchtsameren Theil der Bevölke¬
rung bildend, aus ihren Reihen sind die Meisten Verfechter liberaler Grund¬
sätze und Vertreter der französischen Wissenschaft so wie der Verwaltung her¬
vorgegangen; diese Mittelclasse wird aus durchschnittlich gut begabten und
fleißigen Menschen gebildet, ihre Begriffe von Sittlichkeit sind vielleicht nicht
so strenge als die des deutschen Bürgerstandes, aber man würde ihr großes
Unrecht thun, wenn man sie nach den Romanen oder Dramen eines Paul
de Kock beurtheilte. Auf diese Classe, welche früher so entschieden ihren Ge¬
horsam gegen die Kirche abgeschüttelt, hat in neuerer Zeit, nach unseres Ge¬
währsmannes Aussage, der Katholicismus vornehmlich seine Macht gegrün¬
det ; die Angst vor dem Socialismus hat den Bourgeois in die Arme des
Clerus getrieben, der Art, daß es jetzt nicht blos als Schande gilt, ein Geg¬
ner der Kirche zu sein, sondern selbst wenn man nicht zu ihren thätigen
Freunden gerechnet wird. Diese Stellung wird um so stärker, als die sitt¬
liche Haltung der französischen Geistlichkeit besonders gut ist "und sie sich
sehr thätig in Liebeswerken zeigt." Es kommt indeß noch ein anderer Um¬
stand hinzu, den unser Verfasser wie Mezieres nicht berühren, um den Auf¬
schwung der streng kirchlichen Partei zu erklären. Derselbe datirt von dem¬
selben Akt, durch den Napoleon I. glaubte das Papstthum gefesselt zu haben,
vom Concordat. Dieses erklärte mit einem Federstriche alle Bischofssitze Frank¬
reichs für erledigt und neu vom Papste zu besetzen; damit wurde dem Galli-
kanismus, der Selbständigkeit der nationalen Kirche ein tödtlicher Streich
versetzt. Von da an faßte der Ultramontanismus Wurzel, heute beherrscht er
die französische Kirche. Männer wie Dupanloup und Montalembert kann


59*

die Gefahr aufmerksam, daß der französische Bauer, der von Natur sparsam
bis zum Geiz ist, wenn er sich wirklich als Herr fühle, leicht dahin kommen
könne, die zum Staatshaushalte nothwendigen Mittel zu weigern. „Er könnte
geneigt sein, den Staat zu behandeln wie mein berühmter Landsmann, der
Gascogner, sein Pferd behandelte, als er beschlossen hatte, das arme Thier
zu gewöhnen, ohne Essen zu leben."

Dem Lande werden gegenübergestellt die Städte. Wenn man einige
Handels- und Fabrikstädte ersten Ranges, wie Marseille und Bordeaux,
Lyon und Se. Etienne, einige alte Provinzialmittelpunkte. wie Nismes,
Toulouse, Brest ausnimmt, so liegt über denselben eine tödtliche Einförmig¬
keit, ein bleierner Schlummer der Indifferenz. Jede Classe lebt getrennt von
der andern für sich abgeschieden. Die Arbeiter stehen meist unter republi¬
kanischen Einflüssen, die durch das gemeinsame Leben in den Cabarets ge¬
nährt werden, sie neigen namentlich zu socialistischen Theorien, der Haß gegen
die Reichen, der Krieg gegen das Capital, die Staatshilfe, die Aufhebung der
Familie werden in diesen Kreisen offen gepredigt. Ihnen gegenüber steht die
Bourgeoisie, den vernünftigeren, aber auch furchtsameren Theil der Bevölke¬
rung bildend, aus ihren Reihen sind die Meisten Verfechter liberaler Grund¬
sätze und Vertreter der französischen Wissenschaft so wie der Verwaltung her¬
vorgegangen; diese Mittelclasse wird aus durchschnittlich gut begabten und
fleißigen Menschen gebildet, ihre Begriffe von Sittlichkeit sind vielleicht nicht
so strenge als die des deutschen Bürgerstandes, aber man würde ihr großes
Unrecht thun, wenn man sie nach den Romanen oder Dramen eines Paul
de Kock beurtheilte. Auf diese Classe, welche früher so entschieden ihren Ge¬
horsam gegen die Kirche abgeschüttelt, hat in neuerer Zeit, nach unseres Ge¬
währsmannes Aussage, der Katholicismus vornehmlich seine Macht gegrün¬
det ; die Angst vor dem Socialismus hat den Bourgeois in die Arme des
Clerus getrieben, der Art, daß es jetzt nicht blos als Schande gilt, ein Geg¬
ner der Kirche zu sein, sondern selbst wenn man nicht zu ihren thätigen
Freunden gerechnet wird. Diese Stellung wird um so stärker, als die sitt¬
liche Haltung der französischen Geistlichkeit besonders gut ist „und sie sich
sehr thätig in Liebeswerken zeigt." Es kommt indeß noch ein anderer Um¬
stand hinzu, den unser Verfasser wie Mezieres nicht berühren, um den Auf¬
schwung der streng kirchlichen Partei zu erklären. Derselbe datirt von dem¬
selben Akt, durch den Napoleon I. glaubte das Papstthum gefesselt zu haben,
vom Concordat. Dieses erklärte mit einem Federstriche alle Bischofssitze Frank¬
reichs für erledigt und neu vom Papste zu besetzen; damit wurde dem Galli-
kanismus, der Selbständigkeit der nationalen Kirche ein tödtlicher Streich
versetzt. Von da an faßte der Ultramontanismus Wurzel, heute beherrscht er
die französische Kirche. Männer wie Dupanloup und Montalembert kann


59*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/122230"/>
          <p xml:id="ID_1345" prev="#ID_1344"> die Gefahr aufmerksam, daß der französische Bauer, der von Natur sparsam<lb/>
bis zum Geiz ist, wenn er sich wirklich als Herr fühle, leicht dahin kommen<lb/>
könne, die zum Staatshaushalte nothwendigen Mittel zu weigern. &#x201E;Er könnte<lb/>
geneigt sein, den Staat zu behandeln wie mein berühmter Landsmann, der<lb/>
Gascogner, sein Pferd behandelte, als er beschlossen hatte, das arme Thier<lb/>
zu gewöhnen, ohne Essen zu leben."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1346" next="#ID_1347"> Dem Lande werden gegenübergestellt die Städte. Wenn man einige<lb/>
Handels- und Fabrikstädte ersten Ranges, wie Marseille und Bordeaux,<lb/>
Lyon und Se. Etienne, einige alte Provinzialmittelpunkte. wie Nismes,<lb/>
Toulouse, Brest ausnimmt, so liegt über denselben eine tödtliche Einförmig¬<lb/>
keit, ein bleierner Schlummer der Indifferenz. Jede Classe lebt getrennt von<lb/>
der andern für sich abgeschieden. Die Arbeiter stehen meist unter republi¬<lb/>
kanischen Einflüssen, die durch das gemeinsame Leben in den Cabarets ge¬<lb/>
nährt werden, sie neigen namentlich zu socialistischen Theorien, der Haß gegen<lb/>
die Reichen, der Krieg gegen das Capital, die Staatshilfe, die Aufhebung der<lb/>
Familie werden in diesen Kreisen offen gepredigt. Ihnen gegenüber steht die<lb/>
Bourgeoisie, den vernünftigeren, aber auch furchtsameren Theil der Bevölke¬<lb/>
rung bildend, aus ihren Reihen sind die Meisten Verfechter liberaler Grund¬<lb/>
sätze und Vertreter der französischen Wissenschaft so wie der Verwaltung her¬<lb/>
vorgegangen; diese Mittelclasse wird aus durchschnittlich gut begabten und<lb/>
fleißigen Menschen gebildet, ihre Begriffe von Sittlichkeit sind vielleicht nicht<lb/>
so strenge als die des deutschen Bürgerstandes, aber man würde ihr großes<lb/>
Unrecht thun, wenn man sie nach den Romanen oder Dramen eines Paul<lb/>
de Kock beurtheilte. Auf diese Classe, welche früher so entschieden ihren Ge¬<lb/>
horsam gegen die Kirche abgeschüttelt, hat in neuerer Zeit, nach unseres Ge¬<lb/>
währsmannes Aussage, der Katholicismus vornehmlich seine Macht gegrün¬<lb/>
det ; die Angst vor dem Socialismus hat den Bourgeois in die Arme des<lb/>
Clerus getrieben, der Art, daß es jetzt nicht blos als Schande gilt, ein Geg¬<lb/>
ner der Kirche zu sein, sondern selbst wenn man nicht zu ihren thätigen<lb/>
Freunden gerechnet wird. Diese Stellung wird um so stärker, als die sitt¬<lb/>
liche Haltung der französischen Geistlichkeit besonders gut ist &#x201E;und sie sich<lb/>
sehr thätig in Liebeswerken zeigt." Es kommt indeß noch ein anderer Um¬<lb/>
stand hinzu, den unser Verfasser wie Mezieres nicht berühren, um den Auf¬<lb/>
schwung der streng kirchlichen Partei zu erklären. Derselbe datirt von dem¬<lb/>
selben Akt, durch den Napoleon I. glaubte das Papstthum gefesselt zu haben,<lb/>
vom Concordat. Dieses erklärte mit einem Federstriche alle Bischofssitze Frank¬<lb/>
reichs für erledigt und neu vom Papste zu besetzen; damit wurde dem Galli-<lb/>
kanismus, der Selbständigkeit der nationalen Kirche ein tödtlicher Streich<lb/>
versetzt. Von da an faßte der Ultramontanismus Wurzel, heute beherrscht er<lb/>
die französische Kirche.  Männer wie Dupanloup und Montalembert kann</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 59*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0475] die Gefahr aufmerksam, daß der französische Bauer, der von Natur sparsam bis zum Geiz ist, wenn er sich wirklich als Herr fühle, leicht dahin kommen könne, die zum Staatshaushalte nothwendigen Mittel zu weigern. „Er könnte geneigt sein, den Staat zu behandeln wie mein berühmter Landsmann, der Gascogner, sein Pferd behandelte, als er beschlossen hatte, das arme Thier zu gewöhnen, ohne Essen zu leben." Dem Lande werden gegenübergestellt die Städte. Wenn man einige Handels- und Fabrikstädte ersten Ranges, wie Marseille und Bordeaux, Lyon und Se. Etienne, einige alte Provinzialmittelpunkte. wie Nismes, Toulouse, Brest ausnimmt, so liegt über denselben eine tödtliche Einförmig¬ keit, ein bleierner Schlummer der Indifferenz. Jede Classe lebt getrennt von der andern für sich abgeschieden. Die Arbeiter stehen meist unter republi¬ kanischen Einflüssen, die durch das gemeinsame Leben in den Cabarets ge¬ nährt werden, sie neigen namentlich zu socialistischen Theorien, der Haß gegen die Reichen, der Krieg gegen das Capital, die Staatshilfe, die Aufhebung der Familie werden in diesen Kreisen offen gepredigt. Ihnen gegenüber steht die Bourgeoisie, den vernünftigeren, aber auch furchtsameren Theil der Bevölke¬ rung bildend, aus ihren Reihen sind die Meisten Verfechter liberaler Grund¬ sätze und Vertreter der französischen Wissenschaft so wie der Verwaltung her¬ vorgegangen; diese Mittelclasse wird aus durchschnittlich gut begabten und fleißigen Menschen gebildet, ihre Begriffe von Sittlichkeit sind vielleicht nicht so strenge als die des deutschen Bürgerstandes, aber man würde ihr großes Unrecht thun, wenn man sie nach den Romanen oder Dramen eines Paul de Kock beurtheilte. Auf diese Classe, welche früher so entschieden ihren Ge¬ horsam gegen die Kirche abgeschüttelt, hat in neuerer Zeit, nach unseres Ge¬ währsmannes Aussage, der Katholicismus vornehmlich seine Macht gegrün¬ det ; die Angst vor dem Socialismus hat den Bourgeois in die Arme des Clerus getrieben, der Art, daß es jetzt nicht blos als Schande gilt, ein Geg¬ ner der Kirche zu sein, sondern selbst wenn man nicht zu ihren thätigen Freunden gerechnet wird. Diese Stellung wird um so stärker, als die sitt¬ liche Haltung der französischen Geistlichkeit besonders gut ist „und sie sich sehr thätig in Liebeswerken zeigt." Es kommt indeß noch ein anderer Um¬ stand hinzu, den unser Verfasser wie Mezieres nicht berühren, um den Auf¬ schwung der streng kirchlichen Partei zu erklären. Derselbe datirt von dem¬ selben Akt, durch den Napoleon I. glaubte das Papstthum gefesselt zu haben, vom Concordat. Dieses erklärte mit einem Federstriche alle Bischofssitze Frank¬ reichs für erledigt und neu vom Papste zu besetzen; damit wurde dem Galli- kanismus, der Selbständigkeit der nationalen Kirche ein tödtlicher Streich versetzt. Von da an faßte der Ultramontanismus Wurzel, heute beherrscht er die französische Kirche. Männer wie Dupanloup und Montalembert kann 59*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/475
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/475>, abgerufen am 24.08.2024.