Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eilen Poesie sollte in ihrer Gesetzmäßigkeit, in der harmonischen Verbindung
ihrer Theile, als ein Ganzes, zur Darstellung kommen. Es sollte deutlich
werden, daß die alte Dichtung in ihrer durch innere Nothwendigkeit bestimm¬
ten geschichtlichen Entwickelung selbst als ein herrlich zusammenstimmendes
Kunstwerk dastehe, in welchem das eine Gesetz der Schönheit waltet. --
Wie kann es anders sein, als daß diese Darstellung überall vom Hauche der
lebendigsten Begeisterung emporgetragen wird! Aber diese Begeisterung ist
nicht künstlich erweckt, sie ist nicht leer und gegenstandslos. Daß sie von
Einsicht und Kenntniß, von wahrem Gefühl für das Große begleitet ist,
zeigt Schlegel, sobald er aus dem Gesammtbilde der alten Literatur die ein¬
zelnen Dichtergestalten hervorhebt, um gleichsam das Auge des modernen
Lesers an sie zu gewöhnen. Manches würdig ausgesprochene, aus tieferem
Einblick in das Wesen der antiken Kunst hervorgegangene Urtheil mußte da¬
mals überaus anregend wirken; auch noch in unseren Tagen kann man sich
erquicken an den frischen und treffenden Worten, die uns hier oft genug be¬
gegnen*). Und wenn der Verfasser den Ton der Begeisterung auch noch so
hoch stimmt, so sagt er doch im Grunde nicht mehr, als z. B. Goethe sagt,
wenn er in der Einleitung zu den Propyläen die Griechen als ein Volk
preist, "dem eine Vollkommenheit, die wir wünschen und nie erreichen, natür¬
lich war, bei dem in einer Folge von Zeit und Leben sich eine Bildung in
schöner und stätiger Reihe entwickelt, die bei uns nur als Stückwerk vorüber¬
gehend erscheint." --

Dieser harmonischen Erscheinung der antiken Poesie wird nun die ab¬
schreckende und, wie man fürchten könnte, unheilbare Verworrenheit, das ge¬
staltlose Chaos der neueren Literaturen entgegengehalten. Schlegel müht sich
ab mit Schilderung der drückenden Nachtheile, die auf dem Geistesleben der
neuen Zeit lasteten, der Hindernisse, unter denen die neue Menschheit sich
vergebens hervorzuarbeiten ringt und die in allen Literaturen ein freies und
edles Aufstreben zur Schönheit hemmen. Auch hier fehlt es nicht an einem
richtigen Hauptgedanken. Aber die Beobachtungen, die dieser vielfach über¬
ladenen Schilderung zum Grunde liegen, sind einseitig, willkürlich und mangel¬
haft. Mit schwerem Nachdrucke werden hier Meinungen vorgetragen, die
Schlegel selbst später bei gereifter Erfahrung auf das entschiedenste verwarf**).




') Ich verweise vornehmlich auf die mehrfachen Aeußerungen über Sophokles und auf
die Bemerkung über Virgil S. 221.
") Man vergleiche die auf S. 3S--37 mitgetheilten Bemerkungen über die Künstlichkeit
des Reims, "der in der schönen Kunst immer eine fremdartige Störung bleibt", mit der ge¬
radezu entgegengesetzten Ansicht, die in der Recension der Goethe'schen Werke geltend gemacht
wird. -- Es versteht sich, daß ich hier überall nur auf die erste Ausgabe der Abhandlung
"über daS Studium der griechischen Poesie", nicht auf den späteren Abdruck derselben im fünften
Grenzboten IV. 1869. 58

eilen Poesie sollte in ihrer Gesetzmäßigkeit, in der harmonischen Verbindung
ihrer Theile, als ein Ganzes, zur Darstellung kommen. Es sollte deutlich
werden, daß die alte Dichtung in ihrer durch innere Nothwendigkeit bestimm¬
ten geschichtlichen Entwickelung selbst als ein herrlich zusammenstimmendes
Kunstwerk dastehe, in welchem das eine Gesetz der Schönheit waltet. —
Wie kann es anders sein, als daß diese Darstellung überall vom Hauche der
lebendigsten Begeisterung emporgetragen wird! Aber diese Begeisterung ist
nicht künstlich erweckt, sie ist nicht leer und gegenstandslos. Daß sie von
Einsicht und Kenntniß, von wahrem Gefühl für das Große begleitet ist,
zeigt Schlegel, sobald er aus dem Gesammtbilde der alten Literatur die ein¬
zelnen Dichtergestalten hervorhebt, um gleichsam das Auge des modernen
Lesers an sie zu gewöhnen. Manches würdig ausgesprochene, aus tieferem
Einblick in das Wesen der antiken Kunst hervorgegangene Urtheil mußte da¬
mals überaus anregend wirken; auch noch in unseren Tagen kann man sich
erquicken an den frischen und treffenden Worten, die uns hier oft genug be¬
gegnen*). Und wenn der Verfasser den Ton der Begeisterung auch noch so
hoch stimmt, so sagt er doch im Grunde nicht mehr, als z. B. Goethe sagt,
wenn er in der Einleitung zu den Propyläen die Griechen als ein Volk
preist, „dem eine Vollkommenheit, die wir wünschen und nie erreichen, natür¬
lich war, bei dem in einer Folge von Zeit und Leben sich eine Bildung in
schöner und stätiger Reihe entwickelt, die bei uns nur als Stückwerk vorüber¬
gehend erscheint." —

Dieser harmonischen Erscheinung der antiken Poesie wird nun die ab¬
schreckende und, wie man fürchten könnte, unheilbare Verworrenheit, das ge¬
staltlose Chaos der neueren Literaturen entgegengehalten. Schlegel müht sich
ab mit Schilderung der drückenden Nachtheile, die auf dem Geistesleben der
neuen Zeit lasteten, der Hindernisse, unter denen die neue Menschheit sich
vergebens hervorzuarbeiten ringt und die in allen Literaturen ein freies und
edles Aufstreben zur Schönheit hemmen. Auch hier fehlt es nicht an einem
richtigen Hauptgedanken. Aber die Beobachtungen, die dieser vielfach über¬
ladenen Schilderung zum Grunde liegen, sind einseitig, willkürlich und mangel¬
haft. Mit schwerem Nachdrucke werden hier Meinungen vorgetragen, die
Schlegel selbst später bei gereifter Erfahrung auf das entschiedenste verwarf**).




') Ich verweise vornehmlich auf die mehrfachen Aeußerungen über Sophokles und auf
die Bemerkung über Virgil S. 221.
") Man vergleiche die auf S. 3S—37 mitgetheilten Bemerkungen über die Künstlichkeit
des Reims, „der in der schönen Kunst immer eine fremdartige Störung bleibt", mit der ge¬
radezu entgegengesetzten Ansicht, die in der Recension der Goethe'schen Werke geltend gemacht
wird. — Es versteht sich, daß ich hier überall nur auf die erste Ausgabe der Abhandlung
„über daS Studium der griechischen Poesie", nicht auf den späteren Abdruck derselben im fünften
Grenzboten IV. 1869. 58
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/122220"/>
          <p xml:id="ID_1314" prev="#ID_1313"> eilen Poesie sollte in ihrer Gesetzmäßigkeit, in der harmonischen Verbindung<lb/>
ihrer Theile, als ein Ganzes, zur Darstellung kommen. Es sollte deutlich<lb/>
werden, daß die alte Dichtung in ihrer durch innere Nothwendigkeit bestimm¬<lb/>
ten geschichtlichen Entwickelung selbst als ein herrlich zusammenstimmendes<lb/>
Kunstwerk dastehe, in welchem das eine Gesetz der Schönheit waltet. &#x2014;<lb/>
Wie kann es anders sein, als daß diese Darstellung überall vom Hauche der<lb/>
lebendigsten Begeisterung emporgetragen wird! Aber diese Begeisterung ist<lb/>
nicht künstlich erweckt, sie ist nicht leer und gegenstandslos. Daß sie von<lb/>
Einsicht und Kenntniß, von wahrem Gefühl für das Große begleitet ist,<lb/>
zeigt Schlegel, sobald er aus dem Gesammtbilde der alten Literatur die ein¬<lb/>
zelnen Dichtergestalten hervorhebt, um gleichsam das Auge des modernen<lb/>
Lesers an sie zu gewöhnen. Manches würdig ausgesprochene, aus tieferem<lb/>
Einblick in das Wesen der antiken Kunst hervorgegangene Urtheil mußte da¬<lb/>
mals überaus anregend wirken; auch noch in unseren Tagen kann man sich<lb/>
erquicken an den frischen und treffenden Worten, die uns hier oft genug be¬<lb/>
gegnen*). Und wenn der Verfasser den Ton der Begeisterung auch noch so<lb/>
hoch stimmt, so sagt er doch im Grunde nicht mehr, als z. B. Goethe sagt,<lb/>
wenn er in der Einleitung zu den Propyläen die Griechen als ein Volk<lb/>
preist, &#x201E;dem eine Vollkommenheit, die wir wünschen und nie erreichen, natür¬<lb/>
lich war, bei dem in einer Folge von Zeit und Leben sich eine Bildung in<lb/>
schöner und stätiger Reihe entwickelt, die bei uns nur als Stückwerk vorüber¬<lb/>
gehend erscheint." &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1315" next="#ID_1316"> Dieser harmonischen Erscheinung der antiken Poesie wird nun die ab¬<lb/>
schreckende und, wie man fürchten könnte, unheilbare Verworrenheit, das ge¬<lb/>
staltlose Chaos der neueren Literaturen entgegengehalten. Schlegel müht sich<lb/>
ab mit Schilderung der drückenden Nachtheile, die auf dem Geistesleben der<lb/>
neuen Zeit lasteten, der Hindernisse, unter denen die neue Menschheit sich<lb/>
vergebens hervorzuarbeiten ringt und die in allen Literaturen ein freies und<lb/>
edles Aufstreben zur Schönheit hemmen. Auch hier fehlt es nicht an einem<lb/>
richtigen Hauptgedanken. Aber die Beobachtungen, die dieser vielfach über¬<lb/>
ladenen Schilderung zum Grunde liegen, sind einseitig, willkürlich und mangel¬<lb/>
haft. Mit schwerem Nachdrucke werden hier Meinungen vorgetragen, die<lb/>
Schlegel selbst später bei gereifter Erfahrung auf das entschiedenste verwarf**).</p><lb/>
          <note xml:id="FID_82" place="foot"> ') Ich verweise vornehmlich auf die mehrfachen Aeußerungen über Sophokles und auf<lb/>
die Bemerkung über Virgil S. 221.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_83" place="foot" next="#FID_84"> ") Man vergleiche die auf S. 3S&#x2014;37 mitgetheilten Bemerkungen über die Künstlichkeit<lb/>
des Reims, &#x201E;der in der schönen Kunst immer eine fremdartige Störung bleibt", mit der ge¬<lb/>
radezu entgegengesetzten Ansicht, die in der Recension der Goethe'schen Werke geltend gemacht<lb/>
wird. &#x2014; Es versteht sich, daß ich hier überall nur auf die erste Ausgabe der Abhandlung<lb/>
&#x201E;über daS Studium der griechischen Poesie", nicht auf den späteren Abdruck derselben im fünften</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1869. 58</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0465] eilen Poesie sollte in ihrer Gesetzmäßigkeit, in der harmonischen Verbindung ihrer Theile, als ein Ganzes, zur Darstellung kommen. Es sollte deutlich werden, daß die alte Dichtung in ihrer durch innere Nothwendigkeit bestimm¬ ten geschichtlichen Entwickelung selbst als ein herrlich zusammenstimmendes Kunstwerk dastehe, in welchem das eine Gesetz der Schönheit waltet. — Wie kann es anders sein, als daß diese Darstellung überall vom Hauche der lebendigsten Begeisterung emporgetragen wird! Aber diese Begeisterung ist nicht künstlich erweckt, sie ist nicht leer und gegenstandslos. Daß sie von Einsicht und Kenntniß, von wahrem Gefühl für das Große begleitet ist, zeigt Schlegel, sobald er aus dem Gesammtbilde der alten Literatur die ein¬ zelnen Dichtergestalten hervorhebt, um gleichsam das Auge des modernen Lesers an sie zu gewöhnen. Manches würdig ausgesprochene, aus tieferem Einblick in das Wesen der antiken Kunst hervorgegangene Urtheil mußte da¬ mals überaus anregend wirken; auch noch in unseren Tagen kann man sich erquicken an den frischen und treffenden Worten, die uns hier oft genug be¬ gegnen*). Und wenn der Verfasser den Ton der Begeisterung auch noch so hoch stimmt, so sagt er doch im Grunde nicht mehr, als z. B. Goethe sagt, wenn er in der Einleitung zu den Propyläen die Griechen als ein Volk preist, „dem eine Vollkommenheit, die wir wünschen und nie erreichen, natür¬ lich war, bei dem in einer Folge von Zeit und Leben sich eine Bildung in schöner und stätiger Reihe entwickelt, die bei uns nur als Stückwerk vorüber¬ gehend erscheint." — Dieser harmonischen Erscheinung der antiken Poesie wird nun die ab¬ schreckende und, wie man fürchten könnte, unheilbare Verworrenheit, das ge¬ staltlose Chaos der neueren Literaturen entgegengehalten. Schlegel müht sich ab mit Schilderung der drückenden Nachtheile, die auf dem Geistesleben der neuen Zeit lasteten, der Hindernisse, unter denen die neue Menschheit sich vergebens hervorzuarbeiten ringt und die in allen Literaturen ein freies und edles Aufstreben zur Schönheit hemmen. Auch hier fehlt es nicht an einem richtigen Hauptgedanken. Aber die Beobachtungen, die dieser vielfach über¬ ladenen Schilderung zum Grunde liegen, sind einseitig, willkürlich und mangel¬ haft. Mit schwerem Nachdrucke werden hier Meinungen vorgetragen, die Schlegel selbst später bei gereifter Erfahrung auf das entschiedenste verwarf**). ') Ich verweise vornehmlich auf die mehrfachen Aeußerungen über Sophokles und auf die Bemerkung über Virgil S. 221. ") Man vergleiche die auf S. 3S—37 mitgetheilten Bemerkungen über die Künstlichkeit des Reims, „der in der schönen Kunst immer eine fremdartige Störung bleibt", mit der ge¬ radezu entgegengesetzten Ansicht, die in der Recension der Goethe'schen Werke geltend gemacht wird. — Es versteht sich, daß ich hier überall nur auf die erste Ausgabe der Abhandlung „über daS Studium der griechischen Poesie", nicht auf den späteren Abdruck derselben im fünften Grenzboten IV. 1869. 58

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/465
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/465>, abgerufen am 02.10.2024.