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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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ches für den ostpreußischen Handel eine ganz außerordentliche Wichtigkeit
haben würde. Desto heftiger ist die Opposition der "Most. Zeit.", welche
unaufhörlich versichert, diese Bahn werde den westrussischen Handel in die
schmählichste Abhängigkeit von Preußen bringen und diesen Staat außerdem
in die Lage versetzen, jeder Zeit Truppen nach Rußland werfen zu können. -- Wie
ängstlich man in Bezug auf die Sicherheit der westlichen Reichsgrenzen ist,
beweist der neueste Vorgang in Kischenew. der Hauptstadt Bessarabiens,
welche zufolge der Abtretungen von 1866 ziemlich dicht an die Grenze der Mol¬
dau gerückt ist. Auf Grund eines alten Gesetzes, welches den Juden vorschreibt,
mindestens fünfzig Werst (7 Meilen) von der Grenze entfernt zu leben,
sind dreizehn Jahre nach jener Grenzregulirung plötzlich 20,000 Juden von
ihrem bisherigen Wohnort verwiesen und in das Innere des Reichs trans-
portirt worden. Diese Maßregel, welche einen neuen Beleg dafür abgibt,
wie tief die despotischen Gewohnheiten des alten Systems in der russischen
Bureaukratie eingewurzelt sind, hat die jüdischen Gemeinden von ganz Europa
in eine Aufregung gesetzt, die bis nach Amerika hinüber Wiederhall fand.
General Grant soll bereits seine Verwendung für Zurücknahme dieser Ma߬
regel zugesagt haben und bei dem intimen Charakter der Beziehungen zwischen
Rußland und Amerika wird diese Verwendung schwerlich ohne Erfolg blei¬
ben. Glücklicher als die Polen Litthauens und die Deutschen der baltischen
Provinzen, können die Juden Bessarabiens auf eine moralische Unterstützung
ihres gekränkten Rechts rechnen', welche jenen bis jetzt versagt geblieben ist.

In der Verbreitung von Nachrichten über eine bevorstehende russisch¬
französische Entente, deren Spitze gegen Preußen gerichtet sein soll, hat das
Wiener Preßbureau sich besonders eifrig gezeigt. Und doch wäre Oestreich
die Macht, die die Unkosten einer solchen Conjunctur zunächst zu zahlen hätte
und von allen Vortheilen derselben ausgeschlossen bliebe. Versteht es sich
doch von selbst, daß ein Abkommen zwischen den Cabinetten von Paris und
Petersburg zunächst auf die orientalische Frage Bezug hätte und diese ist,
wie wir in Cattaro aufs Neue gesehen haben, in erster Reihe eine östreichi¬
sche Frage geworden. Das Ungeschick, das die Wiener Regierung verräth, sobald
es sich um slavische Angelegenheiten handelt, kann geradezu unvergleichlich ge¬
nannt werden und doch sind diese Angelegenheiten für die Zukunft des Kaiserstaa¬
tes die wichtigsten. In Galizien hat man es glücklich dahin gebracht, keine
einzige der maßgebenden polnischen und ruthenischen Parteien für sich zu haben,
in Böhmen erhält man die deutsche Bevölkerung in fortwährender Besorgniß
um die Zukunft, ohne die Czechen zufrieden zu stellen. Den Serben gibt
man zu Klagen über Störung ihrer kirchlichen Gewohnheiten Veranlassung,
indem man die thörichten Kreuzzüge gegen den Gebrauch des Kyrillischen
Alphabets unterstützt, welche der Landtag von Agram beschlossen hat (der zur


ches für den ostpreußischen Handel eine ganz außerordentliche Wichtigkeit
haben würde. Desto heftiger ist die Opposition der „Most. Zeit.", welche
unaufhörlich versichert, diese Bahn werde den westrussischen Handel in die
schmählichste Abhängigkeit von Preußen bringen und diesen Staat außerdem
in die Lage versetzen, jeder Zeit Truppen nach Rußland werfen zu können. — Wie
ängstlich man in Bezug auf die Sicherheit der westlichen Reichsgrenzen ist,
beweist der neueste Vorgang in Kischenew. der Hauptstadt Bessarabiens,
welche zufolge der Abtretungen von 1866 ziemlich dicht an die Grenze der Mol¬
dau gerückt ist. Auf Grund eines alten Gesetzes, welches den Juden vorschreibt,
mindestens fünfzig Werst (7 Meilen) von der Grenze entfernt zu leben,
sind dreizehn Jahre nach jener Grenzregulirung plötzlich 20,000 Juden von
ihrem bisherigen Wohnort verwiesen und in das Innere des Reichs trans-
portirt worden. Diese Maßregel, welche einen neuen Beleg dafür abgibt,
wie tief die despotischen Gewohnheiten des alten Systems in der russischen
Bureaukratie eingewurzelt sind, hat die jüdischen Gemeinden von ganz Europa
in eine Aufregung gesetzt, die bis nach Amerika hinüber Wiederhall fand.
General Grant soll bereits seine Verwendung für Zurücknahme dieser Ma߬
regel zugesagt haben und bei dem intimen Charakter der Beziehungen zwischen
Rußland und Amerika wird diese Verwendung schwerlich ohne Erfolg blei¬
ben. Glücklicher als die Polen Litthauens und die Deutschen der baltischen
Provinzen, können die Juden Bessarabiens auf eine moralische Unterstützung
ihres gekränkten Rechts rechnen', welche jenen bis jetzt versagt geblieben ist.

In der Verbreitung von Nachrichten über eine bevorstehende russisch¬
französische Entente, deren Spitze gegen Preußen gerichtet sein soll, hat das
Wiener Preßbureau sich besonders eifrig gezeigt. Und doch wäre Oestreich
die Macht, die die Unkosten einer solchen Conjunctur zunächst zu zahlen hätte
und von allen Vortheilen derselben ausgeschlossen bliebe. Versteht es sich
doch von selbst, daß ein Abkommen zwischen den Cabinetten von Paris und
Petersburg zunächst auf die orientalische Frage Bezug hätte und diese ist,
wie wir in Cattaro aufs Neue gesehen haben, in erster Reihe eine östreichi¬
sche Frage geworden. Das Ungeschick, das die Wiener Regierung verräth, sobald
es sich um slavische Angelegenheiten handelt, kann geradezu unvergleichlich ge¬
nannt werden und doch sind diese Angelegenheiten für die Zukunft des Kaiserstaa¬
tes die wichtigsten. In Galizien hat man es glücklich dahin gebracht, keine
einzige der maßgebenden polnischen und ruthenischen Parteien für sich zu haben,
in Böhmen erhält man die deutsche Bevölkerung in fortwährender Besorgniß
um die Zukunft, ohne die Czechen zufrieden zu stellen. Den Serben gibt
man zu Klagen über Störung ihrer kirchlichen Gewohnheiten Veranlassung,
indem man die thörichten Kreuzzüge gegen den Gebrauch des Kyrillischen
Alphabets unterstützt, welche der Landtag von Agram beschlossen hat (der zur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/440>, abgerufen am 22.07.2024.