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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Weiteres ist indessen nicht bekannt, und selbst die Schriftsteller, welche den
Untergang Polens im Detail dargestellt haben, gehen über die Unterwerfung
Curlands in der Regel ziemlich leicht hinweg. Wir sind in der Lage, diese
Lücke wenigstens zum Theil auszufüllen. Einer der Hauptacteure dieses
Trauerspiels, welches die Selbstsucht und den Eigennutz der in Intriguen
verkommenen adligen Parteiführer in kläglichster Weise bloßlegte, der Baron X.,
hat mehrere Bände in französischer Sprache geschriebener Memoiren hinter¬
lassen, welche ziemlich deutlichen Einblick in den Gang der damaligen Dinge
gestatten. Mehrere Abschnitte dieses interessanten Memoirenschatzes liegen
uns im Wortlaut vor, und wir zögern nicht, die auf die Unterwerfung Cur¬
lands bezüglichen Abschnitte dieser leider noch nie veröffentlichten Aufzeichnungen
den Lesern der Grenzboten vorzulegen.

Um dem Gang der Intriguen, welche die nachstehenden Aufzeichnungen
enthalten, folgen zu können, muß der Leser folgende Gesichtspunkte fest¬
halten. Mit dem Herzog Peter entzweit, wollte der Baron Howen, dem
rusfischerseits große Versprechungen gemacht worden waren, die bedingungs¬
lose Unterwerfung der Ritterschaft verweigern, während es dem Herzog und
der zu Diensten stehenden patriotischen Adelspartei gelegentlich darauf an¬
kam, die Unterwerfung nur unter der Bedingung geschehen zu lassen, daß Catha-
rina II. die Verfassung, die Rechte und die Privilegien Curlands für alle
Zeiten anerkannte und sicherstellte, ehe sie in den Besitz des Herzogthums
trat. Lange bevor es zur eigentlichen Katastrophe kam, war Howen nach
Petersburg gegangen, um das Terrain zu sondiren und die Ausführung
seines Planes vorzubereiten. Seinen Absichten kam wesentlich zu Hilfe, daß
der curländische Adel seit lange in eine Anzahl tödtlich verfeindeter Parteien
gespalten war und außerdem ein feindlicher Gegensatz zwischen Adel und
Bürgerthum bestand. Die Städte hatten vor Jahren eine sogenannte
"Bürgerliche Union" geschlossen und den Versuch gemacht, bald mit polnischer,
bald mit russischer Hilfe in den Besitz der Landstandschaft und anderer poli¬
tischer Rechte zu gelangen. Howen war mit der Union in Verbindung ge¬
treten und hatte versprochen, die Interessen derselben bei der Kaiserin Ca-
tharina zu vertreten. Unser Memoirenschreiber nun hielt zur herzoglichen
Partei und war überdies ein erbitterter Gegner der Union, die er als Aus¬
geburt des Jakobinismus verabscheute, und der gegenüber er die ausschlie߬
lichen Rechte seines Standes nachdrücklich gewahrt sehen wollte. Zu diesen
Gegensätzen kamen noch andere. Seit den Zeiten des Herzogs Carl befan¬
den sich die adligen Familien, welche sich zu diesem gehalten und sich die Be¬
zeichnung der Caroliner zugezogen, in lebhafter Fehde mit den Gegnern des
polnischen Einflusses in Curland -- kurz, die Verwirrung war so hoch ge¬
stiegen, daß keine andere als eine für alle Theile gleich beschämende Lösung
der Curländischen Frage möglich war.


Weiteres ist indessen nicht bekannt, und selbst die Schriftsteller, welche den
Untergang Polens im Detail dargestellt haben, gehen über die Unterwerfung
Curlands in der Regel ziemlich leicht hinweg. Wir sind in der Lage, diese
Lücke wenigstens zum Theil auszufüllen. Einer der Hauptacteure dieses
Trauerspiels, welches die Selbstsucht und den Eigennutz der in Intriguen
verkommenen adligen Parteiführer in kläglichster Weise bloßlegte, der Baron X.,
hat mehrere Bände in französischer Sprache geschriebener Memoiren hinter¬
lassen, welche ziemlich deutlichen Einblick in den Gang der damaligen Dinge
gestatten. Mehrere Abschnitte dieses interessanten Memoirenschatzes liegen
uns im Wortlaut vor, und wir zögern nicht, die auf die Unterwerfung Cur¬
lands bezüglichen Abschnitte dieser leider noch nie veröffentlichten Aufzeichnungen
den Lesern der Grenzboten vorzulegen.

Um dem Gang der Intriguen, welche die nachstehenden Aufzeichnungen
enthalten, folgen zu können, muß der Leser folgende Gesichtspunkte fest¬
halten. Mit dem Herzog Peter entzweit, wollte der Baron Howen, dem
rusfischerseits große Versprechungen gemacht worden waren, die bedingungs¬
lose Unterwerfung der Ritterschaft verweigern, während es dem Herzog und
der zu Diensten stehenden patriotischen Adelspartei gelegentlich darauf an¬
kam, die Unterwerfung nur unter der Bedingung geschehen zu lassen, daß Catha-
rina II. die Verfassung, die Rechte und die Privilegien Curlands für alle
Zeiten anerkannte und sicherstellte, ehe sie in den Besitz des Herzogthums
trat. Lange bevor es zur eigentlichen Katastrophe kam, war Howen nach
Petersburg gegangen, um das Terrain zu sondiren und die Ausführung
seines Planes vorzubereiten. Seinen Absichten kam wesentlich zu Hilfe, daß
der curländische Adel seit lange in eine Anzahl tödtlich verfeindeter Parteien
gespalten war und außerdem ein feindlicher Gegensatz zwischen Adel und
Bürgerthum bestand. Die Städte hatten vor Jahren eine sogenannte
„Bürgerliche Union" geschlossen und den Versuch gemacht, bald mit polnischer,
bald mit russischer Hilfe in den Besitz der Landstandschaft und anderer poli¬
tischer Rechte zu gelangen. Howen war mit der Union in Verbindung ge¬
treten und hatte versprochen, die Interessen derselben bei der Kaiserin Ca-
tharina zu vertreten. Unser Memoirenschreiber nun hielt zur herzoglichen
Partei und war überdies ein erbitterter Gegner der Union, die er als Aus¬
geburt des Jakobinismus verabscheute, und der gegenüber er die ausschlie߬
lichen Rechte seines Standes nachdrücklich gewahrt sehen wollte. Zu diesen
Gegensätzen kamen noch andere. Seit den Zeiten des Herzogs Carl befan¬
den sich die adligen Familien, welche sich zu diesem gehalten und sich die Be¬
zeichnung der Caroliner zugezogen, in lebhafter Fehde mit den Gegnern des
polnischen Einflusses in Curland — kurz, die Verwirrung war so hoch ge¬
stiegen, daß keine andere als eine für alle Theile gleich beschämende Lösung
der Curländischen Frage möglich war.


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[0044] Weiteres ist indessen nicht bekannt, und selbst die Schriftsteller, welche den Untergang Polens im Detail dargestellt haben, gehen über die Unterwerfung Curlands in der Regel ziemlich leicht hinweg. Wir sind in der Lage, diese Lücke wenigstens zum Theil auszufüllen. Einer der Hauptacteure dieses Trauerspiels, welches die Selbstsucht und den Eigennutz der in Intriguen verkommenen adligen Parteiführer in kläglichster Weise bloßlegte, der Baron X., hat mehrere Bände in französischer Sprache geschriebener Memoiren hinter¬ lassen, welche ziemlich deutlichen Einblick in den Gang der damaligen Dinge gestatten. Mehrere Abschnitte dieses interessanten Memoirenschatzes liegen uns im Wortlaut vor, und wir zögern nicht, die auf die Unterwerfung Cur¬ lands bezüglichen Abschnitte dieser leider noch nie veröffentlichten Aufzeichnungen den Lesern der Grenzboten vorzulegen. Um dem Gang der Intriguen, welche die nachstehenden Aufzeichnungen enthalten, folgen zu können, muß der Leser folgende Gesichtspunkte fest¬ halten. Mit dem Herzog Peter entzweit, wollte der Baron Howen, dem rusfischerseits große Versprechungen gemacht worden waren, die bedingungs¬ lose Unterwerfung der Ritterschaft verweigern, während es dem Herzog und der zu Diensten stehenden patriotischen Adelspartei gelegentlich darauf an¬ kam, die Unterwerfung nur unter der Bedingung geschehen zu lassen, daß Catha- rina II. die Verfassung, die Rechte und die Privilegien Curlands für alle Zeiten anerkannte und sicherstellte, ehe sie in den Besitz des Herzogthums trat. Lange bevor es zur eigentlichen Katastrophe kam, war Howen nach Petersburg gegangen, um das Terrain zu sondiren und die Ausführung seines Planes vorzubereiten. Seinen Absichten kam wesentlich zu Hilfe, daß der curländische Adel seit lange in eine Anzahl tödtlich verfeindeter Parteien gespalten war und außerdem ein feindlicher Gegensatz zwischen Adel und Bürgerthum bestand. Die Städte hatten vor Jahren eine sogenannte „Bürgerliche Union" geschlossen und den Versuch gemacht, bald mit polnischer, bald mit russischer Hilfe in den Besitz der Landstandschaft und anderer poli¬ tischer Rechte zu gelangen. Howen war mit der Union in Verbindung ge¬ treten und hatte versprochen, die Interessen derselben bei der Kaiserin Ca- tharina zu vertreten. Unser Memoirenschreiber nun hielt zur herzoglichen Partei und war überdies ein erbitterter Gegner der Union, die er als Aus¬ geburt des Jakobinismus verabscheute, und der gegenüber er die ausschlie߬ lichen Rechte seines Standes nachdrücklich gewahrt sehen wollte. Zu diesen Gegensätzen kamen noch andere. Seit den Zeiten des Herzogs Carl befan¬ den sich die adligen Familien, welche sich zu diesem gehalten und sich die Be¬ zeichnung der Caroliner zugezogen, in lebhafter Fehde mit den Gegnern des polnischen Einflusses in Curland — kurz, die Verwirrung war so hoch ge¬ stiegen, daß keine andere als eine für alle Theile gleich beschämende Lösung der Curländischen Frage möglich war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/44>, abgerufen am 22.07.2024.