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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Auslande einzulassen. Die Petersburger Journale kommen immer wieder
darauf zurück, daß an einen russisch-englischen Conflict in Mittelasien nicht
zu denken sei und daß Rußland zunächst alle Hände voll zu thun habe, um
von der kostspielig Eroberung Taschkents auch nur in commerzieller Be¬
ziehung Nutzen zu ziehen. Wohl verräth sich bei den Organen der Natio¬
nalpartei gelegentlich der Wunsch, im Bunde mit Frankreich von der türkisch-
egyptischen Verwickelung und den Vorgängen in Cattaro Nutzen zu ziehen,
wohl haben dieselben die Hoffnung ausgesprochen, Rußlands orientalische
Politik werde von der Eröffnung des Suezcanals Nutzen ziehen können, aber
erbitterte Parteikämpfe über die Fragen der inneren russischen Politik drängen
all' diese Aspirationen immer wieder in den Hintergrund. Entsprechend dem
widerspruchsvollen Charakter der gegenwärtigen Lage hat die von Moskau
aus inspirirte nationale Partei in einer und derselben Woche einen Sieg er¬
rungen und eine Niederlage erlitten. Der Curator der Universität Dorpat
Graf Keyserling hat seinen Abschied nehmen müssen, weil er an der Oppo¬
sition der deutschen Behörden Liv- Est- Kurlands, gegen den ihnen zuge¬
muteten Besuch russischer Gottesdienste Theil nahm und gleichzeitig sind die
beiden leidenschaftlichsten Vorkämpfer der nationalen Demokratie in dem un¬
glücklichen Lithauen, der Wilnasche Curator Batjuschkow und der Civilgou¬
verneur Schischkow des Dienstes entlassen worden, weil sie dem gemäßigten,
das Interesse der Gutsbesitzer schonenden General-Gouverneur Potapow im
Bunde mit der Moskauschen Zeitung heftige Opposition machten. Diesem
Siege der gemäßigten Partei wird in Rußland eine große Tragweite zu¬
geschrieben, ja es gibt Leute, die denselben als den Vorläufer eines prin¬
cipiellen Umschwungs in der inneren Politik dieses Staats ansehen. Bemer¬
kenswerth ist immerhin, daß das einflußreichste russische Blatt in einer
Frage den Kürzeren gezogen hat, in der es bisher eine unumschränkte
Dictatur übte. General Potapow hat die zu Gunsten seiner Agrar-Politik
getroffene kaiserliche Entscheidung mit der Begründung eines neuen officieusen
Organs in Wilna gefeiert, dessen Herausgeber bisher an der "Wesstj", dem
Organ der polenfreundlichen Opposition beschäftigt gewesen waren. -- Im
Königreich Polen wird an dem bisherigen System unverändert festgehalten
und es heißt sogar, Graf Berg, der kaiserliche Statthalter, der persönlich eine
gemäßigtere Richtung vertrat, werde abberufen, die Statthalterschaft vollstän-
ständig aufgehoben werden. -- Unter den zahlreichen Gesuchen um neue
Eisenbahnconcessionen, welche in Petersburg eingegangen sind, ist zum zwei¬
ten Male das vielbesprochene Project der Lyk-Bjalostocker Linie aufgetaucht,
dieses Mal durch eine Deputation von Königsberger Kaufleuten patronisirt.
Sowohl das Organ des russischen Kriegsministers wie die Direktion der
neuconcessionirren Libauer Eisenbahn sind diesem Unternehmen günstig, wei-


Auslande einzulassen. Die Petersburger Journale kommen immer wieder
darauf zurück, daß an einen russisch-englischen Conflict in Mittelasien nicht
zu denken sei und daß Rußland zunächst alle Hände voll zu thun habe, um
von der kostspielig Eroberung Taschkents auch nur in commerzieller Be¬
ziehung Nutzen zu ziehen. Wohl verräth sich bei den Organen der Natio¬
nalpartei gelegentlich der Wunsch, im Bunde mit Frankreich von der türkisch-
egyptischen Verwickelung und den Vorgängen in Cattaro Nutzen zu ziehen,
wohl haben dieselben die Hoffnung ausgesprochen, Rußlands orientalische
Politik werde von der Eröffnung des Suezcanals Nutzen ziehen können, aber
erbitterte Parteikämpfe über die Fragen der inneren russischen Politik drängen
all' diese Aspirationen immer wieder in den Hintergrund. Entsprechend dem
widerspruchsvollen Charakter der gegenwärtigen Lage hat die von Moskau
aus inspirirte nationale Partei in einer und derselben Woche einen Sieg er¬
rungen und eine Niederlage erlitten. Der Curator der Universität Dorpat
Graf Keyserling hat seinen Abschied nehmen müssen, weil er an der Oppo¬
sition der deutschen Behörden Liv- Est- Kurlands, gegen den ihnen zuge¬
muteten Besuch russischer Gottesdienste Theil nahm und gleichzeitig sind die
beiden leidenschaftlichsten Vorkämpfer der nationalen Demokratie in dem un¬
glücklichen Lithauen, der Wilnasche Curator Batjuschkow und der Civilgou¬
verneur Schischkow des Dienstes entlassen worden, weil sie dem gemäßigten,
das Interesse der Gutsbesitzer schonenden General-Gouverneur Potapow im
Bunde mit der Moskauschen Zeitung heftige Opposition machten. Diesem
Siege der gemäßigten Partei wird in Rußland eine große Tragweite zu¬
geschrieben, ja es gibt Leute, die denselben als den Vorläufer eines prin¬
cipiellen Umschwungs in der inneren Politik dieses Staats ansehen. Bemer¬
kenswerth ist immerhin, daß das einflußreichste russische Blatt in einer
Frage den Kürzeren gezogen hat, in der es bisher eine unumschränkte
Dictatur übte. General Potapow hat die zu Gunsten seiner Agrar-Politik
getroffene kaiserliche Entscheidung mit der Begründung eines neuen officieusen
Organs in Wilna gefeiert, dessen Herausgeber bisher an der „Wesstj", dem
Organ der polenfreundlichen Opposition beschäftigt gewesen waren. — Im
Königreich Polen wird an dem bisherigen System unverändert festgehalten
und es heißt sogar, Graf Berg, der kaiserliche Statthalter, der persönlich eine
gemäßigtere Richtung vertrat, werde abberufen, die Statthalterschaft vollstän-
ständig aufgehoben werden. — Unter den zahlreichen Gesuchen um neue
Eisenbahnconcessionen, welche in Petersburg eingegangen sind, ist zum zwei¬
ten Male das vielbesprochene Project der Lyk-Bjalostocker Linie aufgetaucht,
dieses Mal durch eine Deputation von Königsberger Kaufleuten patronisirt.
Sowohl das Organ des russischen Kriegsministers wie die Direktion der
neuconcessionirren Libauer Eisenbahn sind diesem Unternehmen günstig, wei-


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[0439] Auslande einzulassen. Die Petersburger Journale kommen immer wieder darauf zurück, daß an einen russisch-englischen Conflict in Mittelasien nicht zu denken sei und daß Rußland zunächst alle Hände voll zu thun habe, um von der kostspielig Eroberung Taschkents auch nur in commerzieller Be¬ ziehung Nutzen zu ziehen. Wohl verräth sich bei den Organen der Natio¬ nalpartei gelegentlich der Wunsch, im Bunde mit Frankreich von der türkisch- egyptischen Verwickelung und den Vorgängen in Cattaro Nutzen zu ziehen, wohl haben dieselben die Hoffnung ausgesprochen, Rußlands orientalische Politik werde von der Eröffnung des Suezcanals Nutzen ziehen können, aber erbitterte Parteikämpfe über die Fragen der inneren russischen Politik drängen all' diese Aspirationen immer wieder in den Hintergrund. Entsprechend dem widerspruchsvollen Charakter der gegenwärtigen Lage hat die von Moskau aus inspirirte nationale Partei in einer und derselben Woche einen Sieg er¬ rungen und eine Niederlage erlitten. Der Curator der Universität Dorpat Graf Keyserling hat seinen Abschied nehmen müssen, weil er an der Oppo¬ sition der deutschen Behörden Liv- Est- Kurlands, gegen den ihnen zuge¬ muteten Besuch russischer Gottesdienste Theil nahm und gleichzeitig sind die beiden leidenschaftlichsten Vorkämpfer der nationalen Demokratie in dem un¬ glücklichen Lithauen, der Wilnasche Curator Batjuschkow und der Civilgou¬ verneur Schischkow des Dienstes entlassen worden, weil sie dem gemäßigten, das Interesse der Gutsbesitzer schonenden General-Gouverneur Potapow im Bunde mit der Moskauschen Zeitung heftige Opposition machten. Diesem Siege der gemäßigten Partei wird in Rußland eine große Tragweite zu¬ geschrieben, ja es gibt Leute, die denselben als den Vorläufer eines prin¬ cipiellen Umschwungs in der inneren Politik dieses Staats ansehen. Bemer¬ kenswerth ist immerhin, daß das einflußreichste russische Blatt in einer Frage den Kürzeren gezogen hat, in der es bisher eine unumschränkte Dictatur übte. General Potapow hat die zu Gunsten seiner Agrar-Politik getroffene kaiserliche Entscheidung mit der Begründung eines neuen officieusen Organs in Wilna gefeiert, dessen Herausgeber bisher an der „Wesstj", dem Organ der polenfreundlichen Opposition beschäftigt gewesen waren. — Im Königreich Polen wird an dem bisherigen System unverändert festgehalten und es heißt sogar, Graf Berg, der kaiserliche Statthalter, der persönlich eine gemäßigtere Richtung vertrat, werde abberufen, die Statthalterschaft vollstän- ständig aufgehoben werden. — Unter den zahlreichen Gesuchen um neue Eisenbahnconcessionen, welche in Petersburg eingegangen sind, ist zum zwei¬ ten Male das vielbesprochene Project der Lyk-Bjalostocker Linie aufgetaucht, dieses Mal durch eine Deputation von Königsberger Kaufleuten patronisirt. Sowohl das Organ des russischen Kriegsministers wie die Direktion der neuconcessionirren Libauer Eisenbahn sind diesem Unternehmen günstig, wei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/439>, abgerufen am 22.07.2024.