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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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ländischer Natur und Sitte, den Rang zuerkenne vor dem zügellosen Dichter
der venetianischen Epigramme. Und ferner müßte dieser Recensent merken
lassen, daß, auch nach seiner Meinung, die Schmidt'sche Naturbeschreibung
zuweilen in das Platte falle. Er müßte etwa sagen: "Freilich ist es zu be¬
dauern, daß dem trefflichen Werneuchener Sänger für seine dichterische Natur¬
begeisterung nicht immer der edelste Ausdruck zu Gebote steht, daß die
kümmerliche Naturumgebung, in die er gebannt ist, auch seinen Blick im
Engen und Kleinen gebannt hält, so daß die Darstellung das Niedrige und
Triviale gelegentlich nicht vermeiden kann. Aber dafür behauptet er auch
um so entschiedener den Vorzug der Natürlichkeit. Und welche durchaus
würdige Gegenstände der Dichtung sind diese Bilder ungeschminkter Einfach¬
heit und unverfälschter ländlicher Einfalt! Wer möchte mit dem Dichter
zürnen, wenn er bei ihrer Ausführung auch hie und da unvermeidlich an
das Allzugewöhnliche oder Platte streift!" -- Solche und ähnliche Bemerkungen
müßten in der Recension mit bestimmten Worten oder andeutungsweise vor¬
getragen werden; Schiller's Epigramm würde dann, freilich nicht die ge¬
wohnte treffende Witzesschärfe, aber wenigstens einen faßlichen Sinn erhalten.

Von solchen Bemerkungen findet sich jedoch in der Recension nichts,
aber auch gar nichts. Der verdienstvolle Boas und alle, die ihm mit mehr
oder minder selbständigem Verdienst nachgefolgt sind, haben, von wunderlicher
Selbsttäuschung befangen, dasjenige, was sie zu ihrer Deutung des Epi¬
gramms bedurften, in die Recension geradezu hineingelesen. Die Parallele
zwischen Schmidt und Goethe wird freilich, wie sie an sich abgeschmackt ist,
so auch mit lächerlichem Ungeschick durchgeführt; aber nirgends zieht Goethe
hier den Kürzeren. Der Recensent, der sich offenbar auf seinen unparteiischen
Ueberblick etwas zu gute thut, begnügt sich, umständlich die Materialien her¬
zuzählen, die jeder der beiden Dichter verarbeitet: -- dort in der Lagunen¬
stadt die unübersehlichen Manigfaltigkeiten eines in wechselnder Fülle stets
regen Lebens, hier die bescheidenen, unansehnlichen Reize, die sich auf dem
sandigen Boden der Mark entfalten/) Der Beurtheiler meint es mit Goethe
gar nicht übel. Nachdem er den Inhalt der venetianischen Epigramme her¬
gerechnet hat, ruft er bewundernd: "Welch eine ungeheure Welt! und das
alles eingeschlossen in reine antike Formen!" -- Und so wenig er Goethe in
irgend einem Sinne zurücksetzt oder ihm den Preis der Natürlichkeit abspricht,



") Ich kann auch keinesweges mit Boas glauben, daß Goethe's Gedicht "Musen und
Grazien in der Mark" (zuerst im Musen-Almanach für 1797 S. 68) durch diese Recension
veranlaßt worden ist. Hier bedürfte es wahrlich nicht der Anregung aus zweiter Hand. Goethe
brauchte nur unmittelbar mit flüchtigem Blicke auf die Natmherrlichkeiten zu schauen, welche
die märkische Muse aufschloß, und er war zu seinem köstlichen varodischen Scherz hinlänglich
angeregt, und auch zugleich mit hinlänglichem Stoff versehen. -- Vgl. Tieck in der Vorrede
zu seinen "Kritischen Schriften" S. VIII.

ländischer Natur und Sitte, den Rang zuerkenne vor dem zügellosen Dichter
der venetianischen Epigramme. Und ferner müßte dieser Recensent merken
lassen, daß, auch nach seiner Meinung, die Schmidt'sche Naturbeschreibung
zuweilen in das Platte falle. Er müßte etwa sagen: „Freilich ist es zu be¬
dauern, daß dem trefflichen Werneuchener Sänger für seine dichterische Natur¬
begeisterung nicht immer der edelste Ausdruck zu Gebote steht, daß die
kümmerliche Naturumgebung, in die er gebannt ist, auch seinen Blick im
Engen und Kleinen gebannt hält, so daß die Darstellung das Niedrige und
Triviale gelegentlich nicht vermeiden kann. Aber dafür behauptet er auch
um so entschiedener den Vorzug der Natürlichkeit. Und welche durchaus
würdige Gegenstände der Dichtung sind diese Bilder ungeschminkter Einfach¬
heit und unverfälschter ländlicher Einfalt! Wer möchte mit dem Dichter
zürnen, wenn er bei ihrer Ausführung auch hie und da unvermeidlich an
das Allzugewöhnliche oder Platte streift!" — Solche und ähnliche Bemerkungen
müßten in der Recension mit bestimmten Worten oder andeutungsweise vor¬
getragen werden; Schiller's Epigramm würde dann, freilich nicht die ge¬
wohnte treffende Witzesschärfe, aber wenigstens einen faßlichen Sinn erhalten.

Von solchen Bemerkungen findet sich jedoch in der Recension nichts,
aber auch gar nichts. Der verdienstvolle Boas und alle, die ihm mit mehr
oder minder selbständigem Verdienst nachgefolgt sind, haben, von wunderlicher
Selbsttäuschung befangen, dasjenige, was sie zu ihrer Deutung des Epi¬
gramms bedurften, in die Recension geradezu hineingelesen. Die Parallele
zwischen Schmidt und Goethe wird freilich, wie sie an sich abgeschmackt ist,
so auch mit lächerlichem Ungeschick durchgeführt; aber nirgends zieht Goethe
hier den Kürzeren. Der Recensent, der sich offenbar auf seinen unparteiischen
Ueberblick etwas zu gute thut, begnügt sich, umständlich die Materialien her¬
zuzählen, die jeder der beiden Dichter verarbeitet: — dort in der Lagunen¬
stadt die unübersehlichen Manigfaltigkeiten eines in wechselnder Fülle stets
regen Lebens, hier die bescheidenen, unansehnlichen Reize, die sich auf dem
sandigen Boden der Mark entfalten/) Der Beurtheiler meint es mit Goethe
gar nicht übel. Nachdem er den Inhalt der venetianischen Epigramme her¬
gerechnet hat, ruft er bewundernd: „Welch eine ungeheure Welt! und das
alles eingeschlossen in reine antike Formen!" — Und so wenig er Goethe in
irgend einem Sinne zurücksetzt oder ihm den Preis der Natürlichkeit abspricht,



") Ich kann auch keinesweges mit Boas glauben, daß Goethe's Gedicht „Musen und
Grazien in der Mark" (zuerst im Musen-Almanach für 1797 S. 68) durch diese Recension
veranlaßt worden ist. Hier bedürfte es wahrlich nicht der Anregung aus zweiter Hand. Goethe
brauchte nur unmittelbar mit flüchtigem Blicke auf die Natmherrlichkeiten zu schauen, welche
die märkische Muse aufschloß, und er war zu seinem köstlichen varodischen Scherz hinlänglich
angeregt, und auch zugleich mit hinlänglichem Stoff versehen. — Vgl. Tieck in der Vorrede
zu seinen „Kritischen Schriften" S. VIII.
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[0418] ländischer Natur und Sitte, den Rang zuerkenne vor dem zügellosen Dichter der venetianischen Epigramme. Und ferner müßte dieser Recensent merken lassen, daß, auch nach seiner Meinung, die Schmidt'sche Naturbeschreibung zuweilen in das Platte falle. Er müßte etwa sagen: „Freilich ist es zu be¬ dauern, daß dem trefflichen Werneuchener Sänger für seine dichterische Natur¬ begeisterung nicht immer der edelste Ausdruck zu Gebote steht, daß die kümmerliche Naturumgebung, in die er gebannt ist, auch seinen Blick im Engen und Kleinen gebannt hält, so daß die Darstellung das Niedrige und Triviale gelegentlich nicht vermeiden kann. Aber dafür behauptet er auch um so entschiedener den Vorzug der Natürlichkeit. Und welche durchaus würdige Gegenstände der Dichtung sind diese Bilder ungeschminkter Einfach¬ heit und unverfälschter ländlicher Einfalt! Wer möchte mit dem Dichter zürnen, wenn er bei ihrer Ausführung auch hie und da unvermeidlich an das Allzugewöhnliche oder Platte streift!" — Solche und ähnliche Bemerkungen müßten in der Recension mit bestimmten Worten oder andeutungsweise vor¬ getragen werden; Schiller's Epigramm würde dann, freilich nicht die ge¬ wohnte treffende Witzesschärfe, aber wenigstens einen faßlichen Sinn erhalten. Von solchen Bemerkungen findet sich jedoch in der Recension nichts, aber auch gar nichts. Der verdienstvolle Boas und alle, die ihm mit mehr oder minder selbständigem Verdienst nachgefolgt sind, haben, von wunderlicher Selbsttäuschung befangen, dasjenige, was sie zu ihrer Deutung des Epi¬ gramms bedurften, in die Recension geradezu hineingelesen. Die Parallele zwischen Schmidt und Goethe wird freilich, wie sie an sich abgeschmackt ist, so auch mit lächerlichem Ungeschick durchgeführt; aber nirgends zieht Goethe hier den Kürzeren. Der Recensent, der sich offenbar auf seinen unparteiischen Ueberblick etwas zu gute thut, begnügt sich, umständlich die Materialien her¬ zuzählen, die jeder der beiden Dichter verarbeitet: — dort in der Lagunen¬ stadt die unübersehlichen Manigfaltigkeiten eines in wechselnder Fülle stets regen Lebens, hier die bescheidenen, unansehnlichen Reize, die sich auf dem sandigen Boden der Mark entfalten/) Der Beurtheiler meint es mit Goethe gar nicht übel. Nachdem er den Inhalt der venetianischen Epigramme her¬ gerechnet hat, ruft er bewundernd: „Welch eine ungeheure Welt! und das alles eingeschlossen in reine antike Formen!" — Und so wenig er Goethe in irgend einem Sinne zurücksetzt oder ihm den Preis der Natürlichkeit abspricht, ") Ich kann auch keinesweges mit Boas glauben, daß Goethe's Gedicht „Musen und Grazien in der Mark" (zuerst im Musen-Almanach für 1797 S. 68) durch diese Recension veranlaßt worden ist. Hier bedürfte es wahrlich nicht der Anregung aus zweiter Hand. Goethe brauchte nur unmittelbar mit flüchtigem Blicke auf die Natmherrlichkeiten zu schauen, welche die märkische Muse aufschloß, und er war zu seinem köstlichen varodischen Scherz hinlänglich angeregt, und auch zugleich mit hinlänglichem Stoff versehen. — Vgl. Tieck in der Vorrede zu seinen „Kritischen Schriften" S. VIII.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/418>, abgerufen am 24.08.2024.