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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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voll fortschreitenden Geiste sich entgegenstemmten und ein aus irreleitenden
Halbwahrheiten kümmerlich zusammengetragenes Kunstevangelium hartnäckig
predigten. Die Xenien verkündeten unter Sturm und Wetter, daß unauf¬
haltsam der heitere Tag anbreche, mit dem die anerkannte Herrschaft der
neuen Poesie beginne.

Indem nun so unter den Händen der Meister dieser neuen Poesie ein
satirisches Gemälde der damaligen Literatur wie von selbst entstand, mußte da¬
für gesorgt werden, daß kein irgendwie bemerkenswerther oder hervorstechender
Zug hier fehle. Und welchen überschwänglichen Reichthum verschiedenartiger,
ja widersprechender Erscheinungen brachte jene Zeit ans Licht! Die geistige
Zeugungskraft der Nation schien sich wundersam vervielfältigt zu haben.
Was sonst durch ansehnliche Zwischenräume von einander getrennt und aus
verschiedene Epochen vertheilt ist, das stand dort in gedrängter Fülle neben¬
einander. Was sonst im langsamen Fortgange der Entwickelung nur all-
mälig zur vollen Eigenthümlichkeit seines Wesens heranwächst, das trat dort
mit überraschender Schnelligkeit sogleich in bestimmt ausgebildeter Gestalt
hervor, zeigte seine wahre Natur, und wirkte nach den Gesetzen derselben.
So mußte denn dort auch Altes und Neues in seltsamer Nähe sich begegnen.
Wenn die überwundenen Vertreter abgebrauchter Grundsätze und einseitig
beschränkter Meinungen ihren schon verlorenen Platz zu räumen noch zögerten,
so regten sich neben ihnen schon die jugendlichen, etwas vorlauten Verkünder
einer neuen, nach vielseitiger Ausbildung strebenden Lehre, die durch den
Schein des Tiefsinns -anlocken, durch den Reiz kühner Seltsamkeit bestechen
und ihren Jüngern eine freie, weite, ja unbegränzte Aussicht über die nahe
an einander liegenden Gebiete der Kunst und Wissenschaft eröffnen sollte.
Wenn jene Liebhaber des Alten ihr schwaches Auge unverwandt auf eine ab¬
gelebte Vergangenheit gerichtet hielten, so sahen diese Propheten des Neuesten
mit ungeduldig vorwärts drängenden Blicke schon über das gegenwärtige
Zeitalter hinaus, dessen Wesen sie noch nicht ergründet, dessen Gehalt sie sich
noch nicht angeeignet hatten. Auch diese Jungen und Jüngsten mußten in
den Genien ihr Abbild wiederfinden. Neben der Ueberreife mußte sich die Früh¬
reife zeigen, neben der ängstlichen, mattherziger Schlaffheit die kecke, nicht
immer begründete Zuversicht, neben dem Trivialen das "entsetzlich Geist¬
reiche." Und als einen Häuptling dieser "Neuesten", der für die ganze noch
nicht eben zahlreiche Schaar gelten konnte/) wählte Schiller mit sicherem Griff
den jungen Friedrich Schlegel; er ließ diesen in seiner Eigenschaft als Kritiker
hervortreten und gab folgende



') Doch dießmal ist er von den Neusten;
Er wird sich gränzenlos erdreusten.
Goethe im zweiten Theil des Faust.

voll fortschreitenden Geiste sich entgegenstemmten und ein aus irreleitenden
Halbwahrheiten kümmerlich zusammengetragenes Kunstevangelium hartnäckig
predigten. Die Xenien verkündeten unter Sturm und Wetter, daß unauf¬
haltsam der heitere Tag anbreche, mit dem die anerkannte Herrschaft der
neuen Poesie beginne.

Indem nun so unter den Händen der Meister dieser neuen Poesie ein
satirisches Gemälde der damaligen Literatur wie von selbst entstand, mußte da¬
für gesorgt werden, daß kein irgendwie bemerkenswerther oder hervorstechender
Zug hier fehle. Und welchen überschwänglichen Reichthum verschiedenartiger,
ja widersprechender Erscheinungen brachte jene Zeit ans Licht! Die geistige
Zeugungskraft der Nation schien sich wundersam vervielfältigt zu haben.
Was sonst durch ansehnliche Zwischenräume von einander getrennt und aus
verschiedene Epochen vertheilt ist, das stand dort in gedrängter Fülle neben¬
einander. Was sonst im langsamen Fortgange der Entwickelung nur all-
mälig zur vollen Eigenthümlichkeit seines Wesens heranwächst, das trat dort
mit überraschender Schnelligkeit sogleich in bestimmt ausgebildeter Gestalt
hervor, zeigte seine wahre Natur, und wirkte nach den Gesetzen derselben.
So mußte denn dort auch Altes und Neues in seltsamer Nähe sich begegnen.
Wenn die überwundenen Vertreter abgebrauchter Grundsätze und einseitig
beschränkter Meinungen ihren schon verlorenen Platz zu räumen noch zögerten,
so regten sich neben ihnen schon die jugendlichen, etwas vorlauten Verkünder
einer neuen, nach vielseitiger Ausbildung strebenden Lehre, die durch den
Schein des Tiefsinns -anlocken, durch den Reiz kühner Seltsamkeit bestechen
und ihren Jüngern eine freie, weite, ja unbegränzte Aussicht über die nahe
an einander liegenden Gebiete der Kunst und Wissenschaft eröffnen sollte.
Wenn jene Liebhaber des Alten ihr schwaches Auge unverwandt auf eine ab¬
gelebte Vergangenheit gerichtet hielten, so sahen diese Propheten des Neuesten
mit ungeduldig vorwärts drängenden Blicke schon über das gegenwärtige
Zeitalter hinaus, dessen Wesen sie noch nicht ergründet, dessen Gehalt sie sich
noch nicht angeeignet hatten. Auch diese Jungen und Jüngsten mußten in
den Genien ihr Abbild wiederfinden. Neben der Ueberreife mußte sich die Früh¬
reife zeigen, neben der ängstlichen, mattherziger Schlaffheit die kecke, nicht
immer begründete Zuversicht, neben dem Trivialen das „entsetzlich Geist¬
reiche." Und als einen Häuptling dieser „Neuesten", der für die ganze noch
nicht eben zahlreiche Schaar gelten konnte/) wählte Schiller mit sicherem Griff
den jungen Friedrich Schlegel; er ließ diesen in seiner Eigenschaft als Kritiker
hervortreten und gab folgende



') Doch dießmal ist er von den Neusten;
Er wird sich gränzenlos erdreusten.
Goethe im zweiten Theil des Faust.
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[0415] voll fortschreitenden Geiste sich entgegenstemmten und ein aus irreleitenden Halbwahrheiten kümmerlich zusammengetragenes Kunstevangelium hartnäckig predigten. Die Xenien verkündeten unter Sturm und Wetter, daß unauf¬ haltsam der heitere Tag anbreche, mit dem die anerkannte Herrschaft der neuen Poesie beginne. Indem nun so unter den Händen der Meister dieser neuen Poesie ein satirisches Gemälde der damaligen Literatur wie von selbst entstand, mußte da¬ für gesorgt werden, daß kein irgendwie bemerkenswerther oder hervorstechender Zug hier fehle. Und welchen überschwänglichen Reichthum verschiedenartiger, ja widersprechender Erscheinungen brachte jene Zeit ans Licht! Die geistige Zeugungskraft der Nation schien sich wundersam vervielfältigt zu haben. Was sonst durch ansehnliche Zwischenräume von einander getrennt und aus verschiedene Epochen vertheilt ist, das stand dort in gedrängter Fülle neben¬ einander. Was sonst im langsamen Fortgange der Entwickelung nur all- mälig zur vollen Eigenthümlichkeit seines Wesens heranwächst, das trat dort mit überraschender Schnelligkeit sogleich in bestimmt ausgebildeter Gestalt hervor, zeigte seine wahre Natur, und wirkte nach den Gesetzen derselben. So mußte denn dort auch Altes und Neues in seltsamer Nähe sich begegnen. Wenn die überwundenen Vertreter abgebrauchter Grundsätze und einseitig beschränkter Meinungen ihren schon verlorenen Platz zu räumen noch zögerten, so regten sich neben ihnen schon die jugendlichen, etwas vorlauten Verkünder einer neuen, nach vielseitiger Ausbildung strebenden Lehre, die durch den Schein des Tiefsinns -anlocken, durch den Reiz kühner Seltsamkeit bestechen und ihren Jüngern eine freie, weite, ja unbegränzte Aussicht über die nahe an einander liegenden Gebiete der Kunst und Wissenschaft eröffnen sollte. Wenn jene Liebhaber des Alten ihr schwaches Auge unverwandt auf eine ab¬ gelebte Vergangenheit gerichtet hielten, so sahen diese Propheten des Neuesten mit ungeduldig vorwärts drängenden Blicke schon über das gegenwärtige Zeitalter hinaus, dessen Wesen sie noch nicht ergründet, dessen Gehalt sie sich noch nicht angeeignet hatten. Auch diese Jungen und Jüngsten mußten in den Genien ihr Abbild wiederfinden. Neben der Ueberreife mußte sich die Früh¬ reife zeigen, neben der ängstlichen, mattherziger Schlaffheit die kecke, nicht immer begründete Zuversicht, neben dem Trivialen das „entsetzlich Geist¬ reiche." Und als einen Häuptling dieser „Neuesten", der für die ganze noch nicht eben zahlreiche Schaar gelten konnte/) wählte Schiller mit sicherem Griff den jungen Friedrich Schlegel; er ließ diesen in seiner Eigenschaft als Kritiker hervortreten und gab folgende ') Doch dießmal ist er von den Neusten; Er wird sich gränzenlos erdreusten. Goethe im zweiten Theil des Faust.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/415>, abgerufen am 24.08.2024.