Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Held seine verhängnißvolle Befangenheit ungerührt durch das ganze Stück
behaupten müsse, und für einen Fehler hielten, wenn er sich durch die zweiten
Rollen imponiren ließ, so wußte Sophokles doch dieser Unzugänglichkeit
seines ersten Helden durch fortwährende Steigerung der Leidenschaftlichkeit
eine imponirende Größe und Gewalt zu geben und die einseitige Härte des¬
selben zugleich durch ein gesteigertes und besonders rührendes Empfinden
dem Zuschauer erträglich zu machen. Die Stahlhärte der Antigone z. B.
wird menschlich durch die rührenden Laute der Zärtlichkeit, mit welcher sie
für ihren todten Bruder wagt und leidet; der Trotz des Königs Oedipus
hat eine wundervolle dramatische Steigerung mit seiner zunehmenden Angst
und innern Unsicherheit und findet seine Contrastfarben in dem herzbrechenden
Schmerz nach der Krisis und in der furchtbaren Strafe, die er an sich selbst
vollzieht. Wenn das schon bei den Griechen nöthig war, deren tragisches
Schicksal noch nicht durch das feste Vertrauen auf eine vernünftige Welt¬
ordnung humanisirt wurde, so ist in dem Haupthelden des modernen Drama
Größe und Fülle starker Empfindung und eine Darstellung großer gemüth¬
licher Wandlungen noch weniger zu entbehren. Ein Charakter, welcher, wie
Tartüffe, von Anfang bis zu Ende nur dieselbe Formel seines Inhalts dem
Publicum ausdrückt, macht das Stück trotz der Wahrheit und Feinheit ein¬
zelner Züge dem Zuschauer zuletzt peinlich, obgleich Moliöre die scenischen
Wirkungen dieses Helden klug und discret in wenige Scenen einzuengen ge¬
wußt hat. Bei dem vorliegenden Stück darf man sagen, daß der Dichter
in seiner Umwandlung eines epischen Stoffes zum Drama Talent, Kraft
und nicht gewöhnliches Verständniß für das auf der Bühne Wirksame be¬
währt hat -- bis auf das letzte: die Umwandlung seines historischen Helden
in die Hauptgestalt des Dramas. Das ist ihm noch nicht so gelungen, wie
wir dem Stück wünschen möchten.

Aber hat die Kritik ein Recht, solche Ausführung des Hauptcharakters
zu fordern? Ist denn die poetische Idee des Stückes in Wahrheit die oben
angegebene, nach welcher die Gräfin allein Mittelpunkt und organisirende
Kraft des ganzen dramatischen Krystalls ist? Es ist doch ein wirkliches
Volksstück, anschauliche Schilderung altsriefischer Zustände, es wird ja auch
bereits von den Ostfriesen als ein werther patriotischer Erwerb betrachtet.
Schillers Wilhelm Tell ist auch kein streng einheitlich organisirtes Drama,
Tell selbst darin nur eine Episode, die dramatische Idee des Ganzen ist ja
doch die Lösung der schweizer Waldcantone vom Haus Oestreich. Warum
soll auf Kosten schulgerechter Regelmäßigkeit eine edle volkstümliche Wir¬
kung nicht anderswo durch ähnliche Opfer an der dramatischen Einheit er¬
reicht werden dürsen? Die Antwort liegt nahe. Wilhelm Tell hat bei der
Aufführung im Ganzen noch niemals die Wirkung hervorgebracht, welche


Grenzlwten IV. 186L. 5

Held seine verhängnißvolle Befangenheit ungerührt durch das ganze Stück
behaupten müsse, und für einen Fehler hielten, wenn er sich durch die zweiten
Rollen imponiren ließ, so wußte Sophokles doch dieser Unzugänglichkeit
seines ersten Helden durch fortwährende Steigerung der Leidenschaftlichkeit
eine imponirende Größe und Gewalt zu geben und die einseitige Härte des¬
selben zugleich durch ein gesteigertes und besonders rührendes Empfinden
dem Zuschauer erträglich zu machen. Die Stahlhärte der Antigone z. B.
wird menschlich durch die rührenden Laute der Zärtlichkeit, mit welcher sie
für ihren todten Bruder wagt und leidet; der Trotz des Königs Oedipus
hat eine wundervolle dramatische Steigerung mit seiner zunehmenden Angst
und innern Unsicherheit und findet seine Contrastfarben in dem herzbrechenden
Schmerz nach der Krisis und in der furchtbaren Strafe, die er an sich selbst
vollzieht. Wenn das schon bei den Griechen nöthig war, deren tragisches
Schicksal noch nicht durch das feste Vertrauen auf eine vernünftige Welt¬
ordnung humanisirt wurde, so ist in dem Haupthelden des modernen Drama
Größe und Fülle starker Empfindung und eine Darstellung großer gemüth¬
licher Wandlungen noch weniger zu entbehren. Ein Charakter, welcher, wie
Tartüffe, von Anfang bis zu Ende nur dieselbe Formel seines Inhalts dem
Publicum ausdrückt, macht das Stück trotz der Wahrheit und Feinheit ein¬
zelner Züge dem Zuschauer zuletzt peinlich, obgleich Moliöre die scenischen
Wirkungen dieses Helden klug und discret in wenige Scenen einzuengen ge¬
wußt hat. Bei dem vorliegenden Stück darf man sagen, daß der Dichter
in seiner Umwandlung eines epischen Stoffes zum Drama Talent, Kraft
und nicht gewöhnliches Verständniß für das auf der Bühne Wirksame be¬
währt hat — bis auf das letzte: die Umwandlung seines historischen Helden
in die Hauptgestalt des Dramas. Das ist ihm noch nicht so gelungen, wie
wir dem Stück wünschen möchten.

Aber hat die Kritik ein Recht, solche Ausführung des Hauptcharakters
zu fordern? Ist denn die poetische Idee des Stückes in Wahrheit die oben
angegebene, nach welcher die Gräfin allein Mittelpunkt und organisirende
Kraft des ganzen dramatischen Krystalls ist? Es ist doch ein wirkliches
Volksstück, anschauliche Schilderung altsriefischer Zustände, es wird ja auch
bereits von den Ostfriesen als ein werther patriotischer Erwerb betrachtet.
Schillers Wilhelm Tell ist auch kein streng einheitlich organisirtes Drama,
Tell selbst darin nur eine Episode, die dramatische Idee des Ganzen ist ja
doch die Lösung der schweizer Waldcantone vom Haus Oestreich. Warum
soll auf Kosten schulgerechter Regelmäßigkeit eine edle volkstümliche Wir¬
kung nicht anderswo durch ähnliche Opfer an der dramatischen Einheit er¬
reicht werden dürsen? Die Antwort liegt nahe. Wilhelm Tell hat bei der
Aufführung im Ganzen noch niemals die Wirkung hervorgebracht, welche


Grenzlwten IV. 186L. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0041" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121796"/>
          <p xml:id="ID_91"> Held seine verhängnißvolle Befangenheit ungerührt durch das ganze Stück<lb/>
behaupten müsse, und für einen Fehler hielten, wenn er sich durch die zweiten<lb/>
Rollen imponiren ließ, so wußte Sophokles doch dieser Unzugänglichkeit<lb/>
seines ersten Helden durch fortwährende Steigerung der Leidenschaftlichkeit<lb/>
eine imponirende Größe und Gewalt zu geben und die einseitige Härte des¬<lb/>
selben zugleich durch ein gesteigertes und besonders rührendes Empfinden<lb/>
dem Zuschauer erträglich zu machen. Die Stahlhärte der Antigone z. B.<lb/>
wird menschlich durch die rührenden Laute der Zärtlichkeit, mit welcher sie<lb/>
für ihren todten Bruder wagt und leidet; der Trotz des Königs Oedipus<lb/>
hat eine wundervolle dramatische Steigerung mit seiner zunehmenden Angst<lb/>
und innern Unsicherheit und findet seine Contrastfarben in dem herzbrechenden<lb/>
Schmerz nach der Krisis und in der furchtbaren Strafe, die er an sich selbst<lb/>
vollzieht. Wenn das schon bei den Griechen nöthig war, deren tragisches<lb/>
Schicksal noch nicht durch das feste Vertrauen auf eine vernünftige Welt¬<lb/>
ordnung humanisirt wurde, so ist in dem Haupthelden des modernen Drama<lb/>
Größe und Fülle starker Empfindung und eine Darstellung großer gemüth¬<lb/>
licher Wandlungen noch weniger zu entbehren. Ein Charakter, welcher, wie<lb/>
Tartüffe, von Anfang bis zu Ende nur dieselbe Formel seines Inhalts dem<lb/>
Publicum ausdrückt, macht das Stück trotz der Wahrheit und Feinheit ein¬<lb/>
zelner Züge dem Zuschauer zuletzt peinlich, obgleich Moliöre die scenischen<lb/>
Wirkungen dieses Helden klug und discret in wenige Scenen einzuengen ge¬<lb/>
wußt hat. Bei dem vorliegenden Stück darf man sagen, daß der Dichter<lb/>
in seiner Umwandlung eines epischen Stoffes zum Drama Talent, Kraft<lb/>
und nicht gewöhnliches Verständniß für das auf der Bühne Wirksame be¬<lb/>
währt hat &#x2014; bis auf das letzte: die Umwandlung seines historischen Helden<lb/>
in die Hauptgestalt des Dramas. Das ist ihm noch nicht so gelungen, wie<lb/>
wir dem Stück wünschen möchten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_92"> Aber hat die Kritik ein Recht, solche Ausführung des Hauptcharakters<lb/>
zu fordern? Ist denn die poetische Idee des Stückes in Wahrheit die oben<lb/>
angegebene, nach welcher die Gräfin allein Mittelpunkt und organisirende<lb/>
Kraft des ganzen dramatischen Krystalls ist? Es ist doch ein wirkliches<lb/>
Volksstück, anschauliche Schilderung altsriefischer Zustände, es wird ja auch<lb/>
bereits von den Ostfriesen als ein werther patriotischer Erwerb betrachtet.<lb/>
Schillers Wilhelm Tell ist auch kein streng einheitlich organisirtes Drama,<lb/>
Tell selbst darin nur eine Episode, die dramatische Idee des Ganzen ist ja<lb/>
doch die Lösung der schweizer Waldcantone vom Haus Oestreich. Warum<lb/>
soll auf Kosten schulgerechter Regelmäßigkeit eine edle volkstümliche Wir¬<lb/>
kung nicht anderswo durch ähnliche Opfer an der dramatischen Einheit er¬<lb/>
reicht werden dürsen? Die Antwort liegt nahe. Wilhelm Tell hat bei der<lb/>
Aufführung im Ganzen noch niemals die Wirkung hervorgebracht, welche</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzlwten IV. 186L. 5</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0041] Held seine verhängnißvolle Befangenheit ungerührt durch das ganze Stück behaupten müsse, und für einen Fehler hielten, wenn er sich durch die zweiten Rollen imponiren ließ, so wußte Sophokles doch dieser Unzugänglichkeit seines ersten Helden durch fortwährende Steigerung der Leidenschaftlichkeit eine imponirende Größe und Gewalt zu geben und die einseitige Härte des¬ selben zugleich durch ein gesteigertes und besonders rührendes Empfinden dem Zuschauer erträglich zu machen. Die Stahlhärte der Antigone z. B. wird menschlich durch die rührenden Laute der Zärtlichkeit, mit welcher sie für ihren todten Bruder wagt und leidet; der Trotz des Königs Oedipus hat eine wundervolle dramatische Steigerung mit seiner zunehmenden Angst und innern Unsicherheit und findet seine Contrastfarben in dem herzbrechenden Schmerz nach der Krisis und in der furchtbaren Strafe, die er an sich selbst vollzieht. Wenn das schon bei den Griechen nöthig war, deren tragisches Schicksal noch nicht durch das feste Vertrauen auf eine vernünftige Welt¬ ordnung humanisirt wurde, so ist in dem Haupthelden des modernen Drama Größe und Fülle starker Empfindung und eine Darstellung großer gemüth¬ licher Wandlungen noch weniger zu entbehren. Ein Charakter, welcher, wie Tartüffe, von Anfang bis zu Ende nur dieselbe Formel seines Inhalts dem Publicum ausdrückt, macht das Stück trotz der Wahrheit und Feinheit ein¬ zelner Züge dem Zuschauer zuletzt peinlich, obgleich Moliöre die scenischen Wirkungen dieses Helden klug und discret in wenige Scenen einzuengen ge¬ wußt hat. Bei dem vorliegenden Stück darf man sagen, daß der Dichter in seiner Umwandlung eines epischen Stoffes zum Drama Talent, Kraft und nicht gewöhnliches Verständniß für das auf der Bühne Wirksame be¬ währt hat — bis auf das letzte: die Umwandlung seines historischen Helden in die Hauptgestalt des Dramas. Das ist ihm noch nicht so gelungen, wie wir dem Stück wünschen möchten. Aber hat die Kritik ein Recht, solche Ausführung des Hauptcharakters zu fordern? Ist denn die poetische Idee des Stückes in Wahrheit die oben angegebene, nach welcher die Gräfin allein Mittelpunkt und organisirende Kraft des ganzen dramatischen Krystalls ist? Es ist doch ein wirkliches Volksstück, anschauliche Schilderung altsriefischer Zustände, es wird ja auch bereits von den Ostfriesen als ein werther patriotischer Erwerb betrachtet. Schillers Wilhelm Tell ist auch kein streng einheitlich organisirtes Drama, Tell selbst darin nur eine Episode, die dramatische Idee des Ganzen ist ja doch die Lösung der schweizer Waldcantone vom Haus Oestreich. Warum soll auf Kosten schulgerechter Regelmäßigkeit eine edle volkstümliche Wir¬ kung nicht anderswo durch ähnliche Opfer an der dramatischen Einheit er¬ reicht werden dürsen? Die Antwort liegt nahe. Wilhelm Tell hat bei der Aufführung im Ganzen noch niemals die Wirkung hervorgebracht, welche Grenzlwten IV. 186L. 5

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/41
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/41>, abgerufen am 22.07.2024.