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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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die ganze Misere studiren, in welcher es zwar an tragischen Conflikten nicht
fehlte, aber selbst die tragischen Konflikte waren so mit Komik verquickt, daß
die Helden jener Kämpfe doppelt ehrenwerth, die Opfer doppelt bemitleidens-
werth erschienen, denn die allgemeine Sympathie, welche sonst Leidenden und
Ringenden zur Seite steht, ging ihnen ab, und ihnen selbst blieb nur als
letzter Trost, über ihre Peiniger zu lachen. Ein geistreiches Mitglied der
preußischen Fortschrittspartei sagte unter dem ersten Eindruck des Braun'schen
Buches, es habe ihn zum Nationalliberalen bekehrt; denn er habe das Elend
der Kleinstaaterei früher nicht so gekannt, er begreife jetzt Braun's ungetheilte
Freude, einem, wirklichen Staate anzugehören. --

Wie gesagt, der Bureaukratismus ist an sich wesentlich kleinstaatlicher
Natur und selbst die büreaukratische Centralisation ist in kleinen Staaten in
keiner Weise schwächer oder minder drückend, als in größeren; im Gegentheil
ist die vom Mittelpunkte ausgehende Wirkung um so stärker, je näher das
Centrum zur Peripherie ist. Sogar Preußen macht erst jetzt, seitdem es zum
wirklichen Großstaat geworden, die Erfahrung, daß mit den bisherigen
bureaukratischen Hausmitteln nicht weiter zu regieren sei. Das Seis-Govern-
ment, d. h. die bedingte Autonomie von Gemeinden und Kreisen, verträgt
sich sehr wohl mit der Würde eines englischen oder preußischen Königthums,
ja es erhöht dieselbe. Aber an den Ufern der Darm, wie früher an der Lahn
blühenden Gestaden, ist der Druck der Central- oder Localbehörden auf den
einzelnen Bürger, der nicht zu den Musterknaben des beschränkten Unter¬
thanenverstandes gehört, in demselben Maße stärker, als die Linie kürzer und
das von der dünkelhaften Willkür zu bestreitende Versuchsfeld enger ist. Der
Druck steigert sich bis zur Unerträglichkeit (massenhaften Auswanderung!) oder
er bringt völlige Charakterlosigkeit hervor. Von dem Pariathum eines von
den Hofhallen ausgeschlossenen "herzoglichen Dieners" oder dem stillen Mär-
tyrerthum eines oppositioneller Gesinnungen oder freisinniger Lectüre ver¬
dächtigen Schullehrers hat schon ein preußischer Großstädter kaum eine deut¬
liche Vorstellung. -- Braun's Darstellungen sind Gelegenheitsschristen im
besten Sinne und haben, so viel wir wissen, fast alle schon in Zeitungen oder
Zeitschriften gestanden. Sie umfassen ungefähr den Zeitraum der letzten vier
Jahre und enthalten auch die genetische Erklärung der Krisis: wie es war
und wie es geworden, wie-es gewesen ist), damit es so werden mußte. --
Auch schlecht geschriebene Zeitungsartikel gewinnen oft später ein historisches
Interesse, hier aber liegt schon in den mustergiltigen und auch formell ge¬
lungenen, von köstlichem Humor durchdrungenen Schilderungen ein künst¬
lerischer Werth, wie er in unserer Publicistik nur selten zur Ausprägung ge¬
langt. Das sind freilich keine objectiven oder chronikartigen Darstellungen,
aber Braun's rheinländisch leichUel'i^e Natur läßt doch keinen rechten Fama-


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die ganze Misere studiren, in welcher es zwar an tragischen Conflikten nicht
fehlte, aber selbst die tragischen Konflikte waren so mit Komik verquickt, daß
die Helden jener Kämpfe doppelt ehrenwerth, die Opfer doppelt bemitleidens-
werth erschienen, denn die allgemeine Sympathie, welche sonst Leidenden und
Ringenden zur Seite steht, ging ihnen ab, und ihnen selbst blieb nur als
letzter Trost, über ihre Peiniger zu lachen. Ein geistreiches Mitglied der
preußischen Fortschrittspartei sagte unter dem ersten Eindruck des Braun'schen
Buches, es habe ihn zum Nationalliberalen bekehrt; denn er habe das Elend
der Kleinstaaterei früher nicht so gekannt, er begreife jetzt Braun's ungetheilte
Freude, einem, wirklichen Staate anzugehören. —

Wie gesagt, der Bureaukratismus ist an sich wesentlich kleinstaatlicher
Natur und selbst die büreaukratische Centralisation ist in kleinen Staaten in
keiner Weise schwächer oder minder drückend, als in größeren; im Gegentheil
ist die vom Mittelpunkte ausgehende Wirkung um so stärker, je näher das
Centrum zur Peripherie ist. Sogar Preußen macht erst jetzt, seitdem es zum
wirklichen Großstaat geworden, die Erfahrung, daß mit den bisherigen
bureaukratischen Hausmitteln nicht weiter zu regieren sei. Das Seis-Govern-
ment, d. h. die bedingte Autonomie von Gemeinden und Kreisen, verträgt
sich sehr wohl mit der Würde eines englischen oder preußischen Königthums,
ja es erhöht dieselbe. Aber an den Ufern der Darm, wie früher an der Lahn
blühenden Gestaden, ist der Druck der Central- oder Localbehörden auf den
einzelnen Bürger, der nicht zu den Musterknaben des beschränkten Unter¬
thanenverstandes gehört, in demselben Maße stärker, als die Linie kürzer und
das von der dünkelhaften Willkür zu bestreitende Versuchsfeld enger ist. Der
Druck steigert sich bis zur Unerträglichkeit (massenhaften Auswanderung!) oder
er bringt völlige Charakterlosigkeit hervor. Von dem Pariathum eines von
den Hofhallen ausgeschlossenen „herzoglichen Dieners" oder dem stillen Mär-
tyrerthum eines oppositioneller Gesinnungen oder freisinniger Lectüre ver¬
dächtigen Schullehrers hat schon ein preußischer Großstädter kaum eine deut¬
liche Vorstellung. — Braun's Darstellungen sind Gelegenheitsschristen im
besten Sinne und haben, so viel wir wissen, fast alle schon in Zeitungen oder
Zeitschriften gestanden. Sie umfassen ungefähr den Zeitraum der letzten vier
Jahre und enthalten auch die genetische Erklärung der Krisis: wie es war
und wie es geworden, wie-es gewesen ist), damit es so werden mußte. —
Auch schlecht geschriebene Zeitungsartikel gewinnen oft später ein historisches
Interesse, hier aber liegt schon in den mustergiltigen und auch formell ge¬
lungenen, von köstlichem Humor durchdrungenen Schilderungen ein künst¬
lerischer Werth, wie er in unserer Publicistik nur selten zur Ausprägung ge¬
langt. Das sind freilich keine objectiven oder chronikartigen Darstellungen,
aber Braun's rheinländisch leichUel'i^e Natur läßt doch keinen rechten Fama-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/347>, abgerufen am 22.07.2024.