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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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und blieb das große Hauptquartier, wenn auch nicht die Heimath aller In-
spirirten und Schwärmer, ebenso gut wie der freigeisterischen Secten, die sich
oft nur um eines Haares Breite von jenen unterschieden. Das letzte Auf¬
flackern der Alchymie in der Mitte und zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts konnte nur hier geschehen, ebenso wie der französische Materialismus
und Atheismus nirgends auf deutschem Boden eine solche Anzahl entschlossener
und praktisch co.nsequenter Anhänger und Apostel zählte wie hier. Die
Berliner voltairisirende Aufklärung erscheint daneben sehr unschuldig und
zahm. Aber in demselben Frankfurt saßen auch die zähesten und schlag¬
fertigsten Vorkämpfer der alten protestantischen Orthodoxie, gleich bereit ihre
Waffen nach rechts und links gegen die Pietisten wie gegen die Atheisten
zu wenden und damit nichts fehlte, hegte die alte Reichsstadt mit ihren
größtentheils erhaltenen mittelalterlichen Stiftern auch noch einen mächtigen
und nach allen Seiten hin der im Reiche immer geschäftigen Propaganda
dienenden katholischen Klerus in ihren Mauern.

Um diesen wahren Mikrokosmus ganz zu verstehen, muß man auch
die natürliche Art des Volksstammes erwägen. In ihrer bequemen Leicht¬
lebigkeit, ihrer ausgesprochenen Neigung zu genießlicher Ausbeutung des
Moments, ihrer derben aber nicht groben Jovialität repräsentirte sie von
jeher und damals noch viel entschiedener als später den Durchschnitt des
südwestdeutschen Typus. Im einzelnen mochte er immerhin wieder sich zu
wunderlichsten Sondergestaltungen isoliren, aber keine derselben war so in
sich verhärtet, daß sie nicht in der Frankfurter Luft einen entschieden heimath¬
lichen Hauch empfunden und sich in ihr wohlbefunden hätte. Daher denn
auch das massenhafte Einströmen fremder Elemente, wie es eine natürliche
Hauptstadt bedingt, hier fast im Moment zu einem Ausgleichen und Ver¬
wischen der localen Ingredienzen führte. Wer sich in Frankfurt niederließ,
wurde sofort ein ächter Frankfurter, ohne die freieste Bethätigung seiner mit¬
gebrachten Originalität aufzugeben. Sie fand auf dem im Ganzen wahl¬
verwandten Boden ungehinderten Spielraum und die politische Verfassung
einer Reichsstadt gewährleistete sie ihr in einem Grade, von dem in fürst¬
lichen Residenzen oder überhaupt innerhalb der Grenzen monarchischer Staaten
keine Rede sein konnte.

Wer sich als bloßer objectiver Geschichtsfreund mit dem interessanten
Bilde als solchem begnügt, dem möchte das Frankfurt des vorigen Jahr¬
hunderts, von geschickter Hand gezeichnet, als ein wahres Cabinetsstück ge¬
fallen. Anders aber steht es mit dem Betrachter, dem die Geschichte als
Schlüssel sür das Verständniß der Gegenwart seines Volkes gilt. Er findet
hier wenig Erbauliches, wenn auch sehr viel Lehrreiches. Denn das Urtheil
über diese Zustände mag noch so sehr die gesummte Art und Anlage der


und blieb das große Hauptquartier, wenn auch nicht die Heimath aller In-
spirirten und Schwärmer, ebenso gut wie der freigeisterischen Secten, die sich
oft nur um eines Haares Breite von jenen unterschieden. Das letzte Auf¬
flackern der Alchymie in der Mitte und zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts konnte nur hier geschehen, ebenso wie der französische Materialismus
und Atheismus nirgends auf deutschem Boden eine solche Anzahl entschlossener
und praktisch co.nsequenter Anhänger und Apostel zählte wie hier. Die
Berliner voltairisirende Aufklärung erscheint daneben sehr unschuldig und
zahm. Aber in demselben Frankfurt saßen auch die zähesten und schlag¬
fertigsten Vorkämpfer der alten protestantischen Orthodoxie, gleich bereit ihre
Waffen nach rechts und links gegen die Pietisten wie gegen die Atheisten
zu wenden und damit nichts fehlte, hegte die alte Reichsstadt mit ihren
größtentheils erhaltenen mittelalterlichen Stiftern auch noch einen mächtigen
und nach allen Seiten hin der im Reiche immer geschäftigen Propaganda
dienenden katholischen Klerus in ihren Mauern.

Um diesen wahren Mikrokosmus ganz zu verstehen, muß man auch
die natürliche Art des Volksstammes erwägen. In ihrer bequemen Leicht¬
lebigkeit, ihrer ausgesprochenen Neigung zu genießlicher Ausbeutung des
Moments, ihrer derben aber nicht groben Jovialität repräsentirte sie von
jeher und damals noch viel entschiedener als später den Durchschnitt des
südwestdeutschen Typus. Im einzelnen mochte er immerhin wieder sich zu
wunderlichsten Sondergestaltungen isoliren, aber keine derselben war so in
sich verhärtet, daß sie nicht in der Frankfurter Luft einen entschieden heimath¬
lichen Hauch empfunden und sich in ihr wohlbefunden hätte. Daher denn
auch das massenhafte Einströmen fremder Elemente, wie es eine natürliche
Hauptstadt bedingt, hier fast im Moment zu einem Ausgleichen und Ver¬
wischen der localen Ingredienzen führte. Wer sich in Frankfurt niederließ,
wurde sofort ein ächter Frankfurter, ohne die freieste Bethätigung seiner mit¬
gebrachten Originalität aufzugeben. Sie fand auf dem im Ganzen wahl¬
verwandten Boden ungehinderten Spielraum und die politische Verfassung
einer Reichsstadt gewährleistete sie ihr in einem Grade, von dem in fürst¬
lichen Residenzen oder überhaupt innerhalb der Grenzen monarchischer Staaten
keine Rede sein konnte.

Wer sich als bloßer objectiver Geschichtsfreund mit dem interessanten
Bilde als solchem begnügt, dem möchte das Frankfurt des vorigen Jahr¬
hunderts, von geschickter Hand gezeichnet, als ein wahres Cabinetsstück ge¬
fallen. Anders aber steht es mit dem Betrachter, dem die Geschichte als
Schlüssel sür das Verständniß der Gegenwart seines Volkes gilt. Er findet
hier wenig Erbauliches, wenn auch sehr viel Lehrreiches. Denn das Urtheil
über diese Zustände mag noch so sehr die gesummte Art und Anlage der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/340>, abgerufen am 24.08.2024.