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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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todt gegen den Fortschritt der Geschichte verhielten, was doch nur von den
östreichischen Ervlanden und Altbayern gilt, aber nicht völlig von den übrigen
katholischen Territorien im Reiche. Ja, wenn man sich den volksmäßigen
Begriff des "Reiches" vergegenwärtigt, wie er noch heute im Munde der
älteren Generation des eigentlichen Volkes ist, wo man das bunte Conglo-
merat jener ungezählten staatlichen Sonderexistenzen darunter verstand, die
neben den zehn over zwölf größten deutschen Territorialstaaten im Norden
und Osten bestanden, konnte Frankfurt recht wohl als die wahre Reichs¬
hauptstadt gelten. Es war nicht zufällig, daß diese Stadt als Wahl- und
Krönungsort der Kaiser galt und wenigstens unter dem traurigen Karl VII.
die Rolle der kaiserlichen Residenz gespielt hatte. Hier lief ein Knäuel der
tausendfältig über das ganze Reich gesponnenen Fäden von pedantischer Ra¬
bulisterei zusammen, die in dem durch und durch kranken Organismus des
deutschen öffentlichen Lebens als einer der ärgsten Krebsschäden, aber auch
als eine der ersten Lebensbedingungen aller großen und kleinen Herren und
aller Pnvilegirten empfunden wurde. Hier in Frankfurt saßen jene Schaaren
von Agenten, Consulenten und Nechtsbeiständen des Reichserzkanzlers ebenso"
gut wie des unter Sequester stehenden Reichsritters. Von hier aus wälzten
sich die Frachtwagenladungen von Deductionen nach Wetzlcir zum Kammer¬
gericht, nach Regensburg zum Reichstag, nach Wien zum Reichshofrath und
umgekehrt strömte von allen diesen Ortrn der unsaubere Wust gleichen Ge¬
schreibsels nach Frankfurt zurück. Jedermann, der damit zu thun hatte, wurde
davon beschmutzt. Es galt als selbstverständlich, daß kein Charakter den Ver¬
suchungen widerstehen konnte, die innerhalb dieses Geschäftskreises an ihn
herantraten. Wer nicht selbst direct sich kaufen ließ oder das Recht für Geld
kaufte und verkaufte, that es doch gewiß durch andere. Selbst die relativ
Besten mußten diesen Tribut an ihre Zeit und Umgebung zahlen. So ge¬
währt Knegk's Buch einen wahrhaft schmerzlich überraschenden Beleg, daß
auch ein Karl Friedrich von Moser, den man sonst als idealistischen Tugend¬
helden zu denken gewöhnt ist, wenigstens in einem hier urkundlich erhärte¬
ten Falle zwar nicht direct für den eigenen Nutzen, aber doch im Interesse
seiner Clienten sich zu den allergewöhnlichsten Bestechungsversuchen er¬
niedrigt hat. Es hält schwer zu glauben, daß dieser eine zufällig entdeckte
Fall der einzige in seiner ganzen praktischen Thätigkeit eines langen und un¬
glaublich geschäftigen Lebens geblieben sein sollte. -- Unzweifelhaft bestand
die Mehrzahl dieser in Frankfurt zusammengewürfelten Rechtsverdreher aus
Fremden, aber man weiß auch, daß die Einheimischen mit allen Kräften sich
zu solchen Posten drängten und daß es kaum irgend einen juristisch gebil¬
deten oder in juristischen Geschäften bewanderten Frankfurter gab, der nicht
auch an irgend einen fremden Hof sich anzuklammern gewußt hätte. Dieselben


todt gegen den Fortschritt der Geschichte verhielten, was doch nur von den
östreichischen Ervlanden und Altbayern gilt, aber nicht völlig von den übrigen
katholischen Territorien im Reiche. Ja, wenn man sich den volksmäßigen
Begriff des „Reiches" vergegenwärtigt, wie er noch heute im Munde der
älteren Generation des eigentlichen Volkes ist, wo man das bunte Conglo-
merat jener ungezählten staatlichen Sonderexistenzen darunter verstand, die
neben den zehn over zwölf größten deutschen Territorialstaaten im Norden
und Osten bestanden, konnte Frankfurt recht wohl als die wahre Reichs¬
hauptstadt gelten. Es war nicht zufällig, daß diese Stadt als Wahl- und
Krönungsort der Kaiser galt und wenigstens unter dem traurigen Karl VII.
die Rolle der kaiserlichen Residenz gespielt hatte. Hier lief ein Knäuel der
tausendfältig über das ganze Reich gesponnenen Fäden von pedantischer Ra¬
bulisterei zusammen, die in dem durch und durch kranken Organismus des
deutschen öffentlichen Lebens als einer der ärgsten Krebsschäden, aber auch
als eine der ersten Lebensbedingungen aller großen und kleinen Herren und
aller Pnvilegirten empfunden wurde. Hier in Frankfurt saßen jene Schaaren
von Agenten, Consulenten und Nechtsbeiständen des Reichserzkanzlers ebenso«
gut wie des unter Sequester stehenden Reichsritters. Von hier aus wälzten
sich die Frachtwagenladungen von Deductionen nach Wetzlcir zum Kammer¬
gericht, nach Regensburg zum Reichstag, nach Wien zum Reichshofrath und
umgekehrt strömte von allen diesen Ortrn der unsaubere Wust gleichen Ge¬
schreibsels nach Frankfurt zurück. Jedermann, der damit zu thun hatte, wurde
davon beschmutzt. Es galt als selbstverständlich, daß kein Charakter den Ver¬
suchungen widerstehen konnte, die innerhalb dieses Geschäftskreises an ihn
herantraten. Wer nicht selbst direct sich kaufen ließ oder das Recht für Geld
kaufte und verkaufte, that es doch gewiß durch andere. Selbst die relativ
Besten mußten diesen Tribut an ihre Zeit und Umgebung zahlen. So ge¬
währt Knegk's Buch einen wahrhaft schmerzlich überraschenden Beleg, daß
auch ein Karl Friedrich von Moser, den man sonst als idealistischen Tugend¬
helden zu denken gewöhnt ist, wenigstens in einem hier urkundlich erhärte¬
ten Falle zwar nicht direct für den eigenen Nutzen, aber doch im Interesse
seiner Clienten sich zu den allergewöhnlichsten Bestechungsversuchen er¬
niedrigt hat. Es hält schwer zu glauben, daß dieser eine zufällig entdeckte
Fall der einzige in seiner ganzen praktischen Thätigkeit eines langen und un¬
glaublich geschäftigen Lebens geblieben sein sollte. — Unzweifelhaft bestand
die Mehrzahl dieser in Frankfurt zusammengewürfelten Rechtsverdreher aus
Fremden, aber man weiß auch, daß die Einheimischen mit allen Kräften sich
zu solchen Posten drängten und daß es kaum irgend einen juristisch gebil¬
deten oder in juristischen Geschäften bewanderten Frankfurter gab, der nicht
auch an irgend einen fremden Hof sich anzuklammern gewußt hätte. Dieselben


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[0338] todt gegen den Fortschritt der Geschichte verhielten, was doch nur von den östreichischen Ervlanden und Altbayern gilt, aber nicht völlig von den übrigen katholischen Territorien im Reiche. Ja, wenn man sich den volksmäßigen Begriff des „Reiches" vergegenwärtigt, wie er noch heute im Munde der älteren Generation des eigentlichen Volkes ist, wo man das bunte Conglo- merat jener ungezählten staatlichen Sonderexistenzen darunter verstand, die neben den zehn over zwölf größten deutschen Territorialstaaten im Norden und Osten bestanden, konnte Frankfurt recht wohl als die wahre Reichs¬ hauptstadt gelten. Es war nicht zufällig, daß diese Stadt als Wahl- und Krönungsort der Kaiser galt und wenigstens unter dem traurigen Karl VII. die Rolle der kaiserlichen Residenz gespielt hatte. Hier lief ein Knäuel der tausendfältig über das ganze Reich gesponnenen Fäden von pedantischer Ra¬ bulisterei zusammen, die in dem durch und durch kranken Organismus des deutschen öffentlichen Lebens als einer der ärgsten Krebsschäden, aber auch als eine der ersten Lebensbedingungen aller großen und kleinen Herren und aller Pnvilegirten empfunden wurde. Hier in Frankfurt saßen jene Schaaren von Agenten, Consulenten und Nechtsbeiständen des Reichserzkanzlers ebenso« gut wie des unter Sequester stehenden Reichsritters. Von hier aus wälzten sich die Frachtwagenladungen von Deductionen nach Wetzlcir zum Kammer¬ gericht, nach Regensburg zum Reichstag, nach Wien zum Reichshofrath und umgekehrt strömte von allen diesen Ortrn der unsaubere Wust gleichen Ge¬ schreibsels nach Frankfurt zurück. Jedermann, der damit zu thun hatte, wurde davon beschmutzt. Es galt als selbstverständlich, daß kein Charakter den Ver¬ suchungen widerstehen konnte, die innerhalb dieses Geschäftskreises an ihn herantraten. Wer nicht selbst direct sich kaufen ließ oder das Recht für Geld kaufte und verkaufte, that es doch gewiß durch andere. Selbst die relativ Besten mußten diesen Tribut an ihre Zeit und Umgebung zahlen. So ge¬ währt Knegk's Buch einen wahrhaft schmerzlich überraschenden Beleg, daß auch ein Karl Friedrich von Moser, den man sonst als idealistischen Tugend¬ helden zu denken gewöhnt ist, wenigstens in einem hier urkundlich erhärte¬ ten Falle zwar nicht direct für den eigenen Nutzen, aber doch im Interesse seiner Clienten sich zu den allergewöhnlichsten Bestechungsversuchen er¬ niedrigt hat. Es hält schwer zu glauben, daß dieser eine zufällig entdeckte Fall der einzige in seiner ganzen praktischen Thätigkeit eines langen und un¬ glaublich geschäftigen Lebens geblieben sein sollte. — Unzweifelhaft bestand die Mehrzahl dieser in Frankfurt zusammengewürfelten Rechtsverdreher aus Fremden, aber man weiß auch, daß die Einheimischen mit allen Kräften sich zu solchen Posten drängten und daß es kaum irgend einen juristisch gebil¬ deten oder in juristischen Geschäften bewanderten Frankfurter gab, der nicht auch an irgend einen fremden Hof sich anzuklammern gewußt hätte. Dieselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/338>, abgerufen am 24.08.2024.