Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Begriffe emancipirt, welche etwa dahin drängen könnten, statt oder neben der
sogenannten bürgerlichen Armenpflege eine kirchliche herzustellen oder zu dulden.
In dem tief religiösen und strengkirchlichen Wupperthale ist die Emancipation
nach langen Schwankungen und manchen bitteren Erfahrungen nun soweit
gediehen, daß Niemand entschiedener darüber wacht, das kirchliche Element
von der Armenpflege fernzuhalten, als die an der Spitze derselben stehenden
altkirchlichgesinnten reichen und vornehmen Männer. Unbedingte, geschlossene
örtliche Einheit -- wissen sie -- ist die Voraussetzung jedes Erfolges in der
Armenpflege. Zweitens hat man in Elberfeld an die freiwillige Hingebung
Aller appellirt; drittehalbhundert Männer opfern Jeder einen Theil seiner
Zeit, um den bedrohten Existenzen mit Rath und That beizustehen, aber
mehr noch mit reiflich erwogenen einsichtsvollen Rath, als mit der wohl¬
feilen That des aus dem öffentlichen Beutel entnommenen, leicht hingeworfe¬
nen Almosens. Diese starke Verhältnißzahl der unbesoldeten praktischen
Pfleger, betheiligt an der Aufgabe aller Stände, Richtungen, Talente und
Charaktere, macht die öffentliche Fürsorge zu einer Sache der gesammten
wirthschaftlich unabhängigen Bevölkerung und hilft wieder unter dieser die
rechten Grundsätze verbreiten, nach denen das Verhalten des reichen Mannes
zum armen durchweg geregelt werden sollte. Damit dies in vollem Um¬
fang geschehe, müssen die wahren und gerechten Lehren freilich von der Spitze
her zunächst den sie umgebenden dienenden Kräften unaufhörlich von neuem
eingeprägt werden. Das verbürgt aber eben bis auf einen letzten, von den
Persönlichkeiten abHangenden Rest das durchgebildete System der Organisa¬
tion, das zu reicher und scharfer Beobachtung, consequenten Nachdenken, fach¬
mäßiger innerer Beschäftigung mit der Sache unwiderstehlich hindrängt. Wo
daher Verlangen nach ähnlichen Ergebnissen wie in Elberfeld entsteht, ver¬
mehre man zunächst die Zahl der Armenpfleger, so zwar, daß Keiner der¬
selben mehr als etwa drei oder vier Pflegebefohlene (Einzelne oder Fa¬
milien) ständig zu überwachen hat; man theile die Stadt alsdann in Bezirke
von zweckmäßiger Größe, deren Pfleger alle vierzehn Tage zusammenkommen,
um in Gesammtheit über die Bewilligungsanträge jedes Einzelnen zu ent¬
scheiden, während die Bezirksvorsteher mit den oberen Leitern gleichfalls alle
vierzehn Tage sich versammeln zur Berichterstattung, gemeinsamer Entschei¬
dung von, Appellationen, Bewilligung der Bezirksbedürfnisse, Aufstellung der
allgemeinen Grundsätze und Ueberwachung des Ganzen; man setze von Zeit
zu Zeit für die zu gewährenden Unterstützungen Maxim" fest, welche unter
dem Einkommen der sich selbst erhaltenden ärmsten Volksclassen bleiben (das
nassauische Edict von 1816 fixirte sie bereits auf sechs Siebentel des niedrig¬
sten ortsüblichen Lohnes); man lasse endlich keine Unterstützung von nicht
ganz erwerbsunfähigen Personen auf länger als vierzehn Tage bewilligt


Begriffe emancipirt, welche etwa dahin drängen könnten, statt oder neben der
sogenannten bürgerlichen Armenpflege eine kirchliche herzustellen oder zu dulden.
In dem tief religiösen und strengkirchlichen Wupperthale ist die Emancipation
nach langen Schwankungen und manchen bitteren Erfahrungen nun soweit
gediehen, daß Niemand entschiedener darüber wacht, das kirchliche Element
von der Armenpflege fernzuhalten, als die an der Spitze derselben stehenden
altkirchlichgesinnten reichen und vornehmen Männer. Unbedingte, geschlossene
örtliche Einheit — wissen sie — ist die Voraussetzung jedes Erfolges in der
Armenpflege. Zweitens hat man in Elberfeld an die freiwillige Hingebung
Aller appellirt; drittehalbhundert Männer opfern Jeder einen Theil seiner
Zeit, um den bedrohten Existenzen mit Rath und That beizustehen, aber
mehr noch mit reiflich erwogenen einsichtsvollen Rath, als mit der wohl¬
feilen That des aus dem öffentlichen Beutel entnommenen, leicht hingeworfe¬
nen Almosens. Diese starke Verhältnißzahl der unbesoldeten praktischen
Pfleger, betheiligt an der Aufgabe aller Stände, Richtungen, Talente und
Charaktere, macht die öffentliche Fürsorge zu einer Sache der gesammten
wirthschaftlich unabhängigen Bevölkerung und hilft wieder unter dieser die
rechten Grundsätze verbreiten, nach denen das Verhalten des reichen Mannes
zum armen durchweg geregelt werden sollte. Damit dies in vollem Um¬
fang geschehe, müssen die wahren und gerechten Lehren freilich von der Spitze
her zunächst den sie umgebenden dienenden Kräften unaufhörlich von neuem
eingeprägt werden. Das verbürgt aber eben bis auf einen letzten, von den
Persönlichkeiten abHangenden Rest das durchgebildete System der Organisa¬
tion, das zu reicher und scharfer Beobachtung, consequenten Nachdenken, fach¬
mäßiger innerer Beschäftigung mit der Sache unwiderstehlich hindrängt. Wo
daher Verlangen nach ähnlichen Ergebnissen wie in Elberfeld entsteht, ver¬
mehre man zunächst die Zahl der Armenpfleger, so zwar, daß Keiner der¬
selben mehr als etwa drei oder vier Pflegebefohlene (Einzelne oder Fa¬
milien) ständig zu überwachen hat; man theile die Stadt alsdann in Bezirke
von zweckmäßiger Größe, deren Pfleger alle vierzehn Tage zusammenkommen,
um in Gesammtheit über die Bewilligungsanträge jedes Einzelnen zu ent¬
scheiden, während die Bezirksvorsteher mit den oberen Leitern gleichfalls alle
vierzehn Tage sich versammeln zur Berichterstattung, gemeinsamer Entschei¬
dung von, Appellationen, Bewilligung der Bezirksbedürfnisse, Aufstellung der
allgemeinen Grundsätze und Ueberwachung des Ganzen; man setze von Zeit
zu Zeit für die zu gewährenden Unterstützungen Maxim« fest, welche unter
dem Einkommen der sich selbst erhaltenden ärmsten Volksclassen bleiben (das
nassauische Edict von 1816 fixirte sie bereits auf sechs Siebentel des niedrig¬
sten ortsüblichen Lohnes); man lasse endlich keine Unterstützung von nicht
ganz erwerbsunfähigen Personen auf länger als vierzehn Tage bewilligt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0333" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/122088"/>
          <p xml:id="ID_927" prev="#ID_926" next="#ID_928"> Begriffe emancipirt, welche etwa dahin drängen könnten, statt oder neben der<lb/>
sogenannten bürgerlichen Armenpflege eine kirchliche herzustellen oder zu dulden.<lb/>
In dem tief religiösen und strengkirchlichen Wupperthale ist die Emancipation<lb/>
nach langen Schwankungen und manchen bitteren Erfahrungen nun soweit<lb/>
gediehen, daß Niemand entschiedener darüber wacht, das kirchliche Element<lb/>
von der Armenpflege fernzuhalten, als die an der Spitze derselben stehenden<lb/>
altkirchlichgesinnten reichen und vornehmen Männer. Unbedingte, geschlossene<lb/>
örtliche Einheit &#x2014; wissen sie &#x2014; ist die Voraussetzung jedes Erfolges in der<lb/>
Armenpflege. Zweitens hat man in Elberfeld an die freiwillige Hingebung<lb/>
Aller appellirt; drittehalbhundert Männer opfern Jeder einen Theil seiner<lb/>
Zeit, um den bedrohten Existenzen mit Rath und That beizustehen, aber<lb/>
mehr noch mit reiflich erwogenen einsichtsvollen Rath, als mit der wohl¬<lb/>
feilen That des aus dem öffentlichen Beutel entnommenen, leicht hingeworfe¬<lb/>
nen Almosens. Diese starke Verhältnißzahl der unbesoldeten praktischen<lb/>
Pfleger, betheiligt an der Aufgabe aller Stände, Richtungen, Talente und<lb/>
Charaktere, macht die öffentliche Fürsorge zu einer Sache der gesammten<lb/>
wirthschaftlich unabhängigen Bevölkerung und hilft wieder unter dieser die<lb/>
rechten Grundsätze verbreiten, nach denen das Verhalten des reichen Mannes<lb/>
zum armen durchweg geregelt werden sollte. Damit dies in vollem Um¬<lb/>
fang geschehe, müssen die wahren und gerechten Lehren freilich von der Spitze<lb/>
her zunächst den sie umgebenden dienenden Kräften unaufhörlich von neuem<lb/>
eingeprägt werden. Das verbürgt aber eben bis auf einen letzten, von den<lb/>
Persönlichkeiten abHangenden Rest das durchgebildete System der Organisa¬<lb/>
tion, das zu reicher und scharfer Beobachtung, consequenten Nachdenken, fach¬<lb/>
mäßiger innerer Beschäftigung mit der Sache unwiderstehlich hindrängt. Wo<lb/>
daher Verlangen nach ähnlichen Ergebnissen wie in Elberfeld entsteht, ver¬<lb/>
mehre man zunächst die Zahl der Armenpfleger, so zwar, daß Keiner der¬<lb/>
selben mehr als etwa drei oder vier Pflegebefohlene (Einzelne oder Fa¬<lb/>
milien) ständig zu überwachen hat; man theile die Stadt alsdann in Bezirke<lb/>
von zweckmäßiger Größe, deren Pfleger alle vierzehn Tage zusammenkommen,<lb/>
um in Gesammtheit über die Bewilligungsanträge jedes Einzelnen zu ent¬<lb/>
scheiden, während die Bezirksvorsteher mit den oberen Leitern gleichfalls alle<lb/>
vierzehn Tage sich versammeln zur Berichterstattung, gemeinsamer Entschei¬<lb/>
dung von, Appellationen, Bewilligung der Bezirksbedürfnisse, Aufstellung der<lb/>
allgemeinen Grundsätze und Ueberwachung des Ganzen; man setze von Zeit<lb/>
zu Zeit für die zu gewährenden Unterstützungen Maxim« fest, welche unter<lb/>
dem Einkommen der sich selbst erhaltenden ärmsten Volksclassen bleiben (das<lb/>
nassauische Edict von 1816 fixirte sie bereits auf sechs Siebentel des niedrig¬<lb/>
sten ortsüblichen Lohnes); man lasse endlich keine Unterstützung von nicht<lb/>
ganz erwerbsunfähigen Personen auf länger als vierzehn Tage bewilligt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0333] Begriffe emancipirt, welche etwa dahin drängen könnten, statt oder neben der sogenannten bürgerlichen Armenpflege eine kirchliche herzustellen oder zu dulden. In dem tief religiösen und strengkirchlichen Wupperthale ist die Emancipation nach langen Schwankungen und manchen bitteren Erfahrungen nun soweit gediehen, daß Niemand entschiedener darüber wacht, das kirchliche Element von der Armenpflege fernzuhalten, als die an der Spitze derselben stehenden altkirchlichgesinnten reichen und vornehmen Männer. Unbedingte, geschlossene örtliche Einheit — wissen sie — ist die Voraussetzung jedes Erfolges in der Armenpflege. Zweitens hat man in Elberfeld an die freiwillige Hingebung Aller appellirt; drittehalbhundert Männer opfern Jeder einen Theil seiner Zeit, um den bedrohten Existenzen mit Rath und That beizustehen, aber mehr noch mit reiflich erwogenen einsichtsvollen Rath, als mit der wohl¬ feilen That des aus dem öffentlichen Beutel entnommenen, leicht hingeworfe¬ nen Almosens. Diese starke Verhältnißzahl der unbesoldeten praktischen Pfleger, betheiligt an der Aufgabe aller Stände, Richtungen, Talente und Charaktere, macht die öffentliche Fürsorge zu einer Sache der gesammten wirthschaftlich unabhängigen Bevölkerung und hilft wieder unter dieser die rechten Grundsätze verbreiten, nach denen das Verhalten des reichen Mannes zum armen durchweg geregelt werden sollte. Damit dies in vollem Um¬ fang geschehe, müssen die wahren und gerechten Lehren freilich von der Spitze her zunächst den sie umgebenden dienenden Kräften unaufhörlich von neuem eingeprägt werden. Das verbürgt aber eben bis auf einen letzten, von den Persönlichkeiten abHangenden Rest das durchgebildete System der Organisa¬ tion, das zu reicher und scharfer Beobachtung, consequenten Nachdenken, fach¬ mäßiger innerer Beschäftigung mit der Sache unwiderstehlich hindrängt. Wo daher Verlangen nach ähnlichen Ergebnissen wie in Elberfeld entsteht, ver¬ mehre man zunächst die Zahl der Armenpfleger, so zwar, daß Keiner der¬ selben mehr als etwa drei oder vier Pflegebefohlene (Einzelne oder Fa¬ milien) ständig zu überwachen hat; man theile die Stadt alsdann in Bezirke von zweckmäßiger Größe, deren Pfleger alle vierzehn Tage zusammenkommen, um in Gesammtheit über die Bewilligungsanträge jedes Einzelnen zu ent¬ scheiden, während die Bezirksvorsteher mit den oberen Leitern gleichfalls alle vierzehn Tage sich versammeln zur Berichterstattung, gemeinsamer Entschei¬ dung von, Appellationen, Bewilligung der Bezirksbedürfnisse, Aufstellung der allgemeinen Grundsätze und Ueberwachung des Ganzen; man setze von Zeit zu Zeit für die zu gewährenden Unterstützungen Maxim« fest, welche unter dem Einkommen der sich selbst erhaltenden ärmsten Volksclassen bleiben (das nassauische Edict von 1816 fixirte sie bereits auf sechs Siebentel des niedrig¬ sten ortsüblichen Lohnes); man lasse endlich keine Unterstützung von nicht ganz erwerbsunfähigen Personen auf länger als vierzehn Tage bewilligt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/333
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/333>, abgerufen am 24.08.2024.