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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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ist, weil die Gleichheit der Erhebungswetse an verschiednen Orten und zu
verschiednen Zeiten, ja selbst das nöthige Maß von Gleichheit der Begriffe
und der Ausdrücke fehlt -- Eine Thatsache ergibt sich doch aus allen
Darstellungen des Sammelwerks mit Sicherheit: daß in der Regel da, wo
der größte durchschnittliche und individuelle Reichthum, auch die schreiendste
Armuth herrscht. Fast jedes Land hat Striche, wo die Extreme der Wohl¬
habenheit hart nebeneinander stehen. In Europa als Welttheil ist es Eng¬
land, dessen überlegenes Nationalvermögen und Einkommen nicht motorischer
ist. als seine außerordentlich schwere Armenlast. In Deutschland erfahren
wir es hier ausdrücklich von den oldenburgischen, hannöverschen und schleswig¬
holsteinischen Marschen im Gegensatz zur Geest, von der Pfalz und Mittel¬
franken in Bayern, von Oberschwaben in Würtemberg, also grade den von
Natur gesegnetsten und wirthschaftlich entwickeltsten Landestheilen. Die
Gründe sind mannigfach. Theils wirken gewisse rechtliche oder wirthschaftliche
Eigenthümlichkeiten seit Jahrhunderten dahin, wie z. B. der Deichbau an
der Nordsee mit seinem Druck auf die Zusammenballung des Grundeigen¬
thums, und am Rhein der Weinbau, der so ungleich lohnt. Theils ent¬
wickelt der tägliche Anblick reichlich genossenen hohen Wohlstandes in den
minder begüterten Classen Forderungen an's Leben, welche anderswo nicht
aufkommen können und welche sie ohne wahre Noth zu Bettlern oder
Almosennehmern machen; theils wiederum entspricht dem das Mitleid mit
grell abstechenden Dürftigkeitsverhältnissen eine Bereitwilligkeit zum Geben
bei den Begüterten, die jenem Triebe sich selbst wegzuwerfen nur zu gut
begegnet. So steigert allerdings das eine Extrem das andere, bis ein Sinn
wachsamer Selbstbeherrschung seine heilsamen Dämme zieht; und wahrhaft
brennend ist daher die Frage der Armenpflege vornehmlich grade für die
reichsten Gegenden, wie denn dort auch das Interesse ihr am lebhaftesten zu¬
gewandt zu sein pflegt. Von dem Grade öffentlicher Theilnahme, welchen die
Probleme der Armenpflege in Ostfriesland finden, hat man um Hannover
oder Leipzig herum keine Vorstellung. Die erste Stadt, wo man diesen
Problemen in Deutschland recht auf den Grund gekommen ist. war eine
Fabrikstadt, d. h. ein Wohnort weniger sehr reicher und vieler sehr armer
Leute, nämlich Elberfeld. und andre rheinpreußische Fabrikstädte. Barmer
und Crefeld, haben den Werth der dort vollzogenen Reform zuerst ver¬
standen. "

Ueber die Erfolge der Elberfelder Organisation von 1851 verweisen wir
auf die Berichte des Buches. Sie stehen ziemlich einzig da auf einem Ge¬
biet, das von bedeutenden und unzweifelhaften Erfolgen bisher leider wenig
weiß. Das Geheimniß des Erfolges aber dürfte wesentlich im Folgenden
liegen. Man hat sich zunächst von der Nachwirkung alter Einrichtungen und


ist, weil die Gleichheit der Erhebungswetse an verschiednen Orten und zu
verschiednen Zeiten, ja selbst das nöthige Maß von Gleichheit der Begriffe
und der Ausdrücke fehlt — Eine Thatsache ergibt sich doch aus allen
Darstellungen des Sammelwerks mit Sicherheit: daß in der Regel da, wo
der größte durchschnittliche und individuelle Reichthum, auch die schreiendste
Armuth herrscht. Fast jedes Land hat Striche, wo die Extreme der Wohl¬
habenheit hart nebeneinander stehen. In Europa als Welttheil ist es Eng¬
land, dessen überlegenes Nationalvermögen und Einkommen nicht motorischer
ist. als seine außerordentlich schwere Armenlast. In Deutschland erfahren
wir es hier ausdrücklich von den oldenburgischen, hannöverschen und schleswig¬
holsteinischen Marschen im Gegensatz zur Geest, von der Pfalz und Mittel¬
franken in Bayern, von Oberschwaben in Würtemberg, also grade den von
Natur gesegnetsten und wirthschaftlich entwickeltsten Landestheilen. Die
Gründe sind mannigfach. Theils wirken gewisse rechtliche oder wirthschaftliche
Eigenthümlichkeiten seit Jahrhunderten dahin, wie z. B. der Deichbau an
der Nordsee mit seinem Druck auf die Zusammenballung des Grundeigen¬
thums, und am Rhein der Weinbau, der so ungleich lohnt. Theils ent¬
wickelt der tägliche Anblick reichlich genossenen hohen Wohlstandes in den
minder begüterten Classen Forderungen an's Leben, welche anderswo nicht
aufkommen können und welche sie ohne wahre Noth zu Bettlern oder
Almosennehmern machen; theils wiederum entspricht dem das Mitleid mit
grell abstechenden Dürftigkeitsverhältnissen eine Bereitwilligkeit zum Geben
bei den Begüterten, die jenem Triebe sich selbst wegzuwerfen nur zu gut
begegnet. So steigert allerdings das eine Extrem das andere, bis ein Sinn
wachsamer Selbstbeherrschung seine heilsamen Dämme zieht; und wahrhaft
brennend ist daher die Frage der Armenpflege vornehmlich grade für die
reichsten Gegenden, wie denn dort auch das Interesse ihr am lebhaftesten zu¬
gewandt zu sein pflegt. Von dem Grade öffentlicher Theilnahme, welchen die
Probleme der Armenpflege in Ostfriesland finden, hat man um Hannover
oder Leipzig herum keine Vorstellung. Die erste Stadt, wo man diesen
Problemen in Deutschland recht auf den Grund gekommen ist. war eine
Fabrikstadt, d. h. ein Wohnort weniger sehr reicher und vieler sehr armer
Leute, nämlich Elberfeld. und andre rheinpreußische Fabrikstädte. Barmer
und Crefeld, haben den Werth der dort vollzogenen Reform zuerst ver¬
standen. «

Ueber die Erfolge der Elberfelder Organisation von 1851 verweisen wir
auf die Berichte des Buches. Sie stehen ziemlich einzig da auf einem Ge¬
biet, das von bedeutenden und unzweifelhaften Erfolgen bisher leider wenig
weiß. Das Geheimniß des Erfolges aber dürfte wesentlich im Folgenden
liegen. Man hat sich zunächst von der Nachwirkung alter Einrichtungen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/332>, abgerufen am 22.07.2024.