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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Verfassung vorhanden sei, daß es bei der Schärfe der kirchlichen Gegensätze, die
sich bei dieser Gelegenheit in Hessen kundgegeben habe, im Interesse des kirch¬
lichen Friedens liege, nicht so rasch und nicht so einseitig vorzugehen. Die
hessischen Deputaten werden zwar zweifelsohne darauf erwidern, in kirch¬
lichen Angelegenheiten seien die Hessen von jeher indolent gewesen; habe doch
Vilmar z. B. gesagt, selbst die Reformation sei nur von Philipp dem Gro߬
müthigen in Hessen eingeführt worden und ohne sein Fürstenhaus wür¬
den die Hessen wohl heute noch katholisch sein; eben weil man dieses
wisse, bestehe man auf Einführung einer anderen Kirchenverfassung, durch
die die Selbstthätigkeit des Volkes angeregt und kirchliches Leben geweckt
werde; habe das Volk erst in Hessen eingesehen, daß die neue Ver¬
fassung nicht nur von der Regierung dem Lande angeboten werde, um ihm
neue Steuern aufzubürden, wie man dem gemeinen Mann von den ver¬
schiedensten Seiten aus eingeredet habe, so würden die Dinge sich schon ganz
anders gestaltet haben. Die kirchliche Bewegung für die Synodalverfassung
sei in Hessen auch in's Stocken gerathen, als die Vorlagen der Regierung
für die Synode bekannt geworden seien, und man aus ihnen ersehen habe,
daß z. B. nicht ein Wort von der Mitwirkung der Gemeinden bei Be¬
setzung der Pfarreien in ihnen enthalten sei, und die außerordentliche
Synode eine blos begutachtende Stimme haben solle. -- Das wird voll¬
kommen der Wahrheit entsprechen und man wird auch nicht leugnen können,
daß nicht weniger leicht die Gründe zu widerlegen sein werden, welche aus
dem Widerstande der Vilmarianer hergeleitet werden könnten und für rasche
Einsetzung eines Gesammtconfistoriums sprechen sollen, denn wäre es der
Regierung Ernst gewesen, diesen Widerstand zu beseitigen, so hätte sie es
nach dem Urtheile fast Aller, auch mit den gegenwärtigen Consistonen ver¬
mocht. Ist es doch ein öffentliches Geheimniß, daß das Casseler Consistorium
schon vor längerer Zeit Maßregeln gegen ein hervorragendes Mitglied der
Vilmar'schen Partei beantragt hatte, daß dieselben aber im Cultusministerium
auf Widerstand stießen, bis endlich auch dieses sich zu der beantragten Entsetzung
entschließen mußte. Und wäre Herr von Muster zu bestimmen gewesen,
gleich von Anfang an, als die Majorität der Superintendenten sich ihm zu
widersetzen Miene machte, gegen diese mit Verweisen oder Strafen oder
selbst nur mit einer Drohung vorzugehen, so würden die Pastöre, die sich
später einredeten, sie dürften an Eifer nicht hinter ihren Oberhirten zurück¬
bleiben, sich wohl besonnen haben, solchen Widerstand gegen königliche Ver¬
ordnungen nicht nur zu leisten, sondern auch öffentlich zur Schau zu tragen.
Und wäre in Hessen nur der Glauben an ein ernstliches Vorgehen des Herrn
von Muster gegen die Vilmarianer verbreitet gewesen, so würde ganz gewiß
Vieles nicht vorgekommen sein, was eben geschehen ist. Wird denn aber dieser


Grenzboten IV. 1869. 34

Verfassung vorhanden sei, daß es bei der Schärfe der kirchlichen Gegensätze, die
sich bei dieser Gelegenheit in Hessen kundgegeben habe, im Interesse des kirch¬
lichen Friedens liege, nicht so rasch und nicht so einseitig vorzugehen. Die
hessischen Deputaten werden zwar zweifelsohne darauf erwidern, in kirch¬
lichen Angelegenheiten seien die Hessen von jeher indolent gewesen; habe doch
Vilmar z. B. gesagt, selbst die Reformation sei nur von Philipp dem Gro߬
müthigen in Hessen eingeführt worden und ohne sein Fürstenhaus wür¬
den die Hessen wohl heute noch katholisch sein; eben weil man dieses
wisse, bestehe man auf Einführung einer anderen Kirchenverfassung, durch
die die Selbstthätigkeit des Volkes angeregt und kirchliches Leben geweckt
werde; habe das Volk erst in Hessen eingesehen, daß die neue Ver¬
fassung nicht nur von der Regierung dem Lande angeboten werde, um ihm
neue Steuern aufzubürden, wie man dem gemeinen Mann von den ver¬
schiedensten Seiten aus eingeredet habe, so würden die Dinge sich schon ganz
anders gestaltet haben. Die kirchliche Bewegung für die Synodalverfassung
sei in Hessen auch in's Stocken gerathen, als die Vorlagen der Regierung
für die Synode bekannt geworden seien, und man aus ihnen ersehen habe,
daß z. B. nicht ein Wort von der Mitwirkung der Gemeinden bei Be¬
setzung der Pfarreien in ihnen enthalten sei, und die außerordentliche
Synode eine blos begutachtende Stimme haben solle. — Das wird voll¬
kommen der Wahrheit entsprechen und man wird auch nicht leugnen können,
daß nicht weniger leicht die Gründe zu widerlegen sein werden, welche aus
dem Widerstande der Vilmarianer hergeleitet werden könnten und für rasche
Einsetzung eines Gesammtconfistoriums sprechen sollen, denn wäre es der
Regierung Ernst gewesen, diesen Widerstand zu beseitigen, so hätte sie es
nach dem Urtheile fast Aller, auch mit den gegenwärtigen Consistonen ver¬
mocht. Ist es doch ein öffentliches Geheimniß, daß das Casseler Consistorium
schon vor längerer Zeit Maßregeln gegen ein hervorragendes Mitglied der
Vilmar'schen Partei beantragt hatte, daß dieselben aber im Cultusministerium
auf Widerstand stießen, bis endlich auch dieses sich zu der beantragten Entsetzung
entschließen mußte. Und wäre Herr von Muster zu bestimmen gewesen,
gleich von Anfang an, als die Majorität der Superintendenten sich ihm zu
widersetzen Miene machte, gegen diese mit Verweisen oder Strafen oder
selbst nur mit einer Drohung vorzugehen, so würden die Pastöre, die sich
später einredeten, sie dürften an Eifer nicht hinter ihren Oberhirten zurück¬
bleiben, sich wohl besonnen haben, solchen Widerstand gegen königliche Ver¬
ordnungen nicht nur zu leisten, sondern auch öffentlich zur Schau zu tragen.
Und wäre in Hessen nur der Glauben an ein ernstliches Vorgehen des Herrn
von Muster gegen die Vilmarianer verbreitet gewesen, so würde ganz gewiß
Vieles nicht vorgekommen sein, was eben geschehen ist. Wird denn aber dieser


Grenzboten IV. 1869. 34
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[0273] Verfassung vorhanden sei, daß es bei der Schärfe der kirchlichen Gegensätze, die sich bei dieser Gelegenheit in Hessen kundgegeben habe, im Interesse des kirch¬ lichen Friedens liege, nicht so rasch und nicht so einseitig vorzugehen. Die hessischen Deputaten werden zwar zweifelsohne darauf erwidern, in kirch¬ lichen Angelegenheiten seien die Hessen von jeher indolent gewesen; habe doch Vilmar z. B. gesagt, selbst die Reformation sei nur von Philipp dem Gro߬ müthigen in Hessen eingeführt worden und ohne sein Fürstenhaus wür¬ den die Hessen wohl heute noch katholisch sein; eben weil man dieses wisse, bestehe man auf Einführung einer anderen Kirchenverfassung, durch die die Selbstthätigkeit des Volkes angeregt und kirchliches Leben geweckt werde; habe das Volk erst in Hessen eingesehen, daß die neue Ver¬ fassung nicht nur von der Regierung dem Lande angeboten werde, um ihm neue Steuern aufzubürden, wie man dem gemeinen Mann von den ver¬ schiedensten Seiten aus eingeredet habe, so würden die Dinge sich schon ganz anders gestaltet haben. Die kirchliche Bewegung für die Synodalverfassung sei in Hessen auch in's Stocken gerathen, als die Vorlagen der Regierung für die Synode bekannt geworden seien, und man aus ihnen ersehen habe, daß z. B. nicht ein Wort von der Mitwirkung der Gemeinden bei Be¬ setzung der Pfarreien in ihnen enthalten sei, und die außerordentliche Synode eine blos begutachtende Stimme haben solle. — Das wird voll¬ kommen der Wahrheit entsprechen und man wird auch nicht leugnen können, daß nicht weniger leicht die Gründe zu widerlegen sein werden, welche aus dem Widerstande der Vilmarianer hergeleitet werden könnten und für rasche Einsetzung eines Gesammtconfistoriums sprechen sollen, denn wäre es der Regierung Ernst gewesen, diesen Widerstand zu beseitigen, so hätte sie es nach dem Urtheile fast Aller, auch mit den gegenwärtigen Consistonen ver¬ mocht. Ist es doch ein öffentliches Geheimniß, daß das Casseler Consistorium schon vor längerer Zeit Maßregeln gegen ein hervorragendes Mitglied der Vilmar'schen Partei beantragt hatte, daß dieselben aber im Cultusministerium auf Widerstand stießen, bis endlich auch dieses sich zu der beantragten Entsetzung entschließen mußte. Und wäre Herr von Muster zu bestimmen gewesen, gleich von Anfang an, als die Majorität der Superintendenten sich ihm zu widersetzen Miene machte, gegen diese mit Verweisen oder Strafen oder selbst nur mit einer Drohung vorzugehen, so würden die Pastöre, die sich später einredeten, sie dürften an Eifer nicht hinter ihren Oberhirten zurück¬ bleiben, sich wohl besonnen haben, solchen Widerstand gegen königliche Ver¬ ordnungen nicht nur zu leisten, sondern auch öffentlich zur Schau zu tragen. Und wäre in Hessen nur der Glauben an ein ernstliches Vorgehen des Herrn von Muster gegen die Vilmarianer verbreitet gewesen, so würde ganz gewiß Vieles nicht vorgekommen sein, was eben geschehen ist. Wird denn aber dieser Grenzboten IV. 1869. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/273>, abgerufen am 24.08.2024.