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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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denken ist. Auch andere Vorschläge, die in dieser Krisis aufgetaucht sind,
hatten unter der Unschlüssigkeit eines disparaten Ministeriums zu leiden.
Cambray-Digny wollte einige Gesetze, die ihm dringlich schienen, aber noch
nicht sämmtliche Stadien durchgemacht hatten, provisorisch auf dem Verord¬
nungswege promulgiren, mit dem Vorbehalt späterer Indemnität, so das
Gesetz über die veränderte Steuererhebung, das von der Kammer, aber noch
nicht vom Senat genehmigt ist, und das Verwaltungsgesetz, so weit es von
der Kammer berathen wurde, Ein anderes Project, das erörtert wurde, ist
dies: die Zahl der Abgeordneten, von denen in der Regel die Hälfte durch
Abwesenheit glänzt, zu vermindern und dagegen das jetzt bestehende Wahl¬
recht erheblich auszudehnen, um damit die Masse des Volks mehr als bisher
sür das öffentliche Leben zu interessiren. Auch die Art und Weise, wie große
Gesetzgebungsarbeiten vom Parlament behandelt werden, ist dringend einer
Reform bedürftig Die in ermüdender Weise fast ununterbrochen fortdauern¬
den Sessionen sind darum so ergebnißlos, weil die Grenzen, der parlamen¬
tarischen Action ganz falsch gezogen sind. Es ist fast unvermeidlich, daß Ge¬
setzesvorlagen scheitern, die aus 200 Paragraphen bestehend zur Detail¬
berathung einer Kammer von 400 Mitgliedern überantwortet werden, welche
zum großen Theil aus Advocaten zusammengesetzt ist, deren Streitlust und
ungehemmter Redeschwall jeden Morgen aufs Neue beginnt.

Freilich ist vorauszusehen, daß alle diese oder andere Mittel, zu denen
das Ministerium greifen mag, wenig nützen oder wenigstens keine gründliche
und rasche Heilung herbeiführen werden. Jahrzehnte lang wird Italien noch
an den Finanz- und Verwaltungscalamitäten dieser Uebergangszeit laboriren,
denn sie beruhen auf Ursachen, die, wie sie nicht plötzlich eingetreten sind,
auch nicht plötzlich verschwinden können. Bis jetzt ist das constitutionelle
Regiment, das alle Entscheidungen von wechselnden Majoritäten abhängig
macht und überdies unendlich verzögert, eher ein Hinderniß als ein Mittel
der inneren Consolidirung gewesen. Nur die Zeit vermag dem Volk all-
mälig die politische Reife zu geben, die zu einer parlamentarischen Regierungs¬
weise befähigt. Das Volk ist zum Herrn seiner Geschicke geworden, zu einer
Zeit, da noch alle Grundbedingungen dafür fehlten, und die heutige Lage
Italiens mit dem Bankerott seines Constitutionalismus, den doch immer die
Volksvertretung selbst verschuldet, wäre eine wahrhaft trostlose, wenn nicht
neben dem politischen Italien, das so widerliche Scenen in den letzten Mo¬
naten auswies, ein anderes Italien existirte, das, um das öffentliche Leben
nur allzuunbekümmert, ruhig seinen Geschäften lebt, das arbeitet, und so in
der Stille in kleinen Bruchtheilen die Elemente jenes Nationalwohlstandes
sammelt, der nicht durch Finanzgesetze hervorgerufen werden kann, sondern
erst die Basis einer gesunden Finanzpolitik werden wird. Die Existenz des


denken ist. Auch andere Vorschläge, die in dieser Krisis aufgetaucht sind,
hatten unter der Unschlüssigkeit eines disparaten Ministeriums zu leiden.
Cambray-Digny wollte einige Gesetze, die ihm dringlich schienen, aber noch
nicht sämmtliche Stadien durchgemacht hatten, provisorisch auf dem Verord¬
nungswege promulgiren, mit dem Vorbehalt späterer Indemnität, so das
Gesetz über die veränderte Steuererhebung, das von der Kammer, aber noch
nicht vom Senat genehmigt ist, und das Verwaltungsgesetz, so weit es von
der Kammer berathen wurde, Ein anderes Project, das erörtert wurde, ist
dies: die Zahl der Abgeordneten, von denen in der Regel die Hälfte durch
Abwesenheit glänzt, zu vermindern und dagegen das jetzt bestehende Wahl¬
recht erheblich auszudehnen, um damit die Masse des Volks mehr als bisher
sür das öffentliche Leben zu interessiren. Auch die Art und Weise, wie große
Gesetzgebungsarbeiten vom Parlament behandelt werden, ist dringend einer
Reform bedürftig Die in ermüdender Weise fast ununterbrochen fortdauern¬
den Sessionen sind darum so ergebnißlos, weil die Grenzen, der parlamen¬
tarischen Action ganz falsch gezogen sind. Es ist fast unvermeidlich, daß Ge¬
setzesvorlagen scheitern, die aus 200 Paragraphen bestehend zur Detail¬
berathung einer Kammer von 400 Mitgliedern überantwortet werden, welche
zum großen Theil aus Advocaten zusammengesetzt ist, deren Streitlust und
ungehemmter Redeschwall jeden Morgen aufs Neue beginnt.

Freilich ist vorauszusehen, daß alle diese oder andere Mittel, zu denen
das Ministerium greifen mag, wenig nützen oder wenigstens keine gründliche
und rasche Heilung herbeiführen werden. Jahrzehnte lang wird Italien noch
an den Finanz- und Verwaltungscalamitäten dieser Uebergangszeit laboriren,
denn sie beruhen auf Ursachen, die, wie sie nicht plötzlich eingetreten sind,
auch nicht plötzlich verschwinden können. Bis jetzt ist das constitutionelle
Regiment, das alle Entscheidungen von wechselnden Majoritäten abhängig
macht und überdies unendlich verzögert, eher ein Hinderniß als ein Mittel
der inneren Consolidirung gewesen. Nur die Zeit vermag dem Volk all-
mälig die politische Reife zu geben, die zu einer parlamentarischen Regierungs¬
weise befähigt. Das Volk ist zum Herrn seiner Geschicke geworden, zu einer
Zeit, da noch alle Grundbedingungen dafür fehlten, und die heutige Lage
Italiens mit dem Bankerott seines Constitutionalismus, den doch immer die
Volksvertretung selbst verschuldet, wäre eine wahrhaft trostlose, wenn nicht
neben dem politischen Italien, das so widerliche Scenen in den letzten Mo¬
naten auswies, ein anderes Italien existirte, das, um das öffentliche Leben
nur allzuunbekümmert, ruhig seinen Geschäften lebt, das arbeitet, und so in
der Stille in kleinen Bruchtheilen die Elemente jenes Nationalwohlstandes
sammelt, der nicht durch Finanzgesetze hervorgerufen werden kann, sondern
erst die Basis einer gesunden Finanzpolitik werden wird. Die Existenz des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/22>, abgerufen am 22.07.2024.