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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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stand hinaus und bieten uns bald über den herrschenden Anschauungskreis,
bald über das Schicksal der künstlerischen Vorstellungen und Formen den dan-
kenswerthesten Aufschluß.

Selbst den kleinsten Aufsätzen sieht man es an, daß sie aus dem Vollen
gearbeitet sind. Von allen Seiten strömt ihm das reichste Material zu,
nach allen Richtungen hin beleuchtet und prüft er den Gegenstand. Kein
verwandtes Denkmal wird vergessen, keine Schriftstelle, welche Aufklärung
geben kann, übersehen, keine Beziehung auf benachbarte Kreise vernachlässigt.
Diese unbedingte Beherrschung des Stoffs, diese Kraft, sich in jedem Augen¬
blicke alle Hilfsmittel gegenwärtig zu halten, setzt die vollkommene Vertraut¬
heit mit dem ganzen Gebiete voraus, ebenso wie die durchsichtige Form, in
welcher Jahn's "Populäre Aufsätze aus der Alterthumswissenschaft" erscheinen,
nur von einem Manne erreicht werden konnte, welcher das antike Leben ganz
und tief durchdrungen hat. Spähne nannte er die "Populären Aufsätze" in
seiner bescheidenen Weise; Spähne, an deren Gestalt aber deutlich wird, von
welchem großartigen Gedankenbaum sie abgefallen sind. In den knappsten
Grenzen entfaltet er vor uns das reiche Bild der hellenischen Kunst; was
kaum ein anderer Lebender wagen kann, gelingt ihm, weil er, Dank seinen
ebenso umfassenden wie gründlichen Studien über die markigsten Züge, die
charaktervollsten Linien und die fettesten Farben gebietet. Daß man dem
Aufsatze den ungeheuren Aufwand an Arbeit, der vorangehen mußte, nicht
anmerkt, ist sein bestes Lob. Er weiß uns gleichsam spielend mitten in die
wichtigsten archäologischen Probleme einzuführen, wenn er von der "Restitution
verlorener Kunstwerke" spricht und uns mit sicherer und leichter Hand durch
das Gewirre schwebender Fragen zu leiten, wenn er von der "Polychromie
der alten Sculptur" oder von dem Vorbild und der wahren Gestalt des
"Apollo von Belvedere" erzählt. Mitten im Einzelnen stehend, bleibt sein
Auge doch stets auf das Allgemeine gerichtet, mit Vorliebe concrete Gegen¬
stände behandelnd, wird er doch nicht den Aufgaben, die man sonst der spe¬
kulativen Forschung zuweist, fremd. Die Abhandlung über die "Mode in
der alten Kunst" gibt ihm z, B. Anlaß, sich über den Begriff der Idealität
zu äußern. "Der schaffende Künstler ist gebunden an die Gesetze der mensch¬
lichen Natur, vermöge welcher er schafft, an die Gesetze der ihn umgebenden
Natur, welcher er nachschafft, "n die Gesetze des Stoffes, in welchem er
schaffend bildet. Diese Gesetze aber, so mannigfaltig und verschiedenartig die
Erscheinungen sind, in welchen sie sich offenbaren, sind ihrem Wesen nach
dieselben und das Schaffen des Künstlers beruht darauf, daß er sie als iden¬
tische gemeinsam in Wirksamkeit setze. Nur einem künstlerischen Vermögen,
welches durch Begabung und Bildung die in den einzelnen Factoren des
künstlerischen Schaffens wirksamen Gesetze in ihrer Wurzel in sich aufgenom-


Grmzboten IV. 1869. 27

stand hinaus und bieten uns bald über den herrschenden Anschauungskreis,
bald über das Schicksal der künstlerischen Vorstellungen und Formen den dan-
kenswerthesten Aufschluß.

Selbst den kleinsten Aufsätzen sieht man es an, daß sie aus dem Vollen
gearbeitet sind. Von allen Seiten strömt ihm das reichste Material zu,
nach allen Richtungen hin beleuchtet und prüft er den Gegenstand. Kein
verwandtes Denkmal wird vergessen, keine Schriftstelle, welche Aufklärung
geben kann, übersehen, keine Beziehung auf benachbarte Kreise vernachlässigt.
Diese unbedingte Beherrschung des Stoffs, diese Kraft, sich in jedem Augen¬
blicke alle Hilfsmittel gegenwärtig zu halten, setzt die vollkommene Vertraut¬
heit mit dem ganzen Gebiete voraus, ebenso wie die durchsichtige Form, in
welcher Jahn's „Populäre Aufsätze aus der Alterthumswissenschaft" erscheinen,
nur von einem Manne erreicht werden konnte, welcher das antike Leben ganz
und tief durchdrungen hat. Spähne nannte er die „Populären Aufsätze" in
seiner bescheidenen Weise; Spähne, an deren Gestalt aber deutlich wird, von
welchem großartigen Gedankenbaum sie abgefallen sind. In den knappsten
Grenzen entfaltet er vor uns das reiche Bild der hellenischen Kunst; was
kaum ein anderer Lebender wagen kann, gelingt ihm, weil er, Dank seinen
ebenso umfassenden wie gründlichen Studien über die markigsten Züge, die
charaktervollsten Linien und die fettesten Farben gebietet. Daß man dem
Aufsatze den ungeheuren Aufwand an Arbeit, der vorangehen mußte, nicht
anmerkt, ist sein bestes Lob. Er weiß uns gleichsam spielend mitten in die
wichtigsten archäologischen Probleme einzuführen, wenn er von der „Restitution
verlorener Kunstwerke" spricht und uns mit sicherer und leichter Hand durch
das Gewirre schwebender Fragen zu leiten, wenn er von der „Polychromie
der alten Sculptur" oder von dem Vorbild und der wahren Gestalt des
„Apollo von Belvedere" erzählt. Mitten im Einzelnen stehend, bleibt sein
Auge doch stets auf das Allgemeine gerichtet, mit Vorliebe concrete Gegen¬
stände behandelnd, wird er doch nicht den Aufgaben, die man sonst der spe¬
kulativen Forschung zuweist, fremd. Die Abhandlung über die „Mode in
der alten Kunst" gibt ihm z, B. Anlaß, sich über den Begriff der Idealität
zu äußern. „Der schaffende Künstler ist gebunden an die Gesetze der mensch¬
lichen Natur, vermöge welcher er schafft, an die Gesetze der ihn umgebenden
Natur, welcher er nachschafft, «n die Gesetze des Stoffes, in welchem er
schaffend bildet. Diese Gesetze aber, so mannigfaltig und verschiedenartig die
Erscheinungen sind, in welchen sie sich offenbaren, sind ihrem Wesen nach
dieselben und das Schaffen des Künstlers beruht darauf, daß er sie als iden¬
tische gemeinsam in Wirksamkeit setze. Nur einem künstlerischen Vermögen,
welches durch Begabung und Bildung die in den einzelnen Factoren des
künstlerischen Schaffens wirksamen Gesetze in ihrer Wurzel in sich aufgenom-


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[0217] stand hinaus und bieten uns bald über den herrschenden Anschauungskreis, bald über das Schicksal der künstlerischen Vorstellungen und Formen den dan- kenswerthesten Aufschluß. Selbst den kleinsten Aufsätzen sieht man es an, daß sie aus dem Vollen gearbeitet sind. Von allen Seiten strömt ihm das reichste Material zu, nach allen Richtungen hin beleuchtet und prüft er den Gegenstand. Kein verwandtes Denkmal wird vergessen, keine Schriftstelle, welche Aufklärung geben kann, übersehen, keine Beziehung auf benachbarte Kreise vernachlässigt. Diese unbedingte Beherrschung des Stoffs, diese Kraft, sich in jedem Augen¬ blicke alle Hilfsmittel gegenwärtig zu halten, setzt die vollkommene Vertraut¬ heit mit dem ganzen Gebiete voraus, ebenso wie die durchsichtige Form, in welcher Jahn's „Populäre Aufsätze aus der Alterthumswissenschaft" erscheinen, nur von einem Manne erreicht werden konnte, welcher das antike Leben ganz und tief durchdrungen hat. Spähne nannte er die „Populären Aufsätze" in seiner bescheidenen Weise; Spähne, an deren Gestalt aber deutlich wird, von welchem großartigen Gedankenbaum sie abgefallen sind. In den knappsten Grenzen entfaltet er vor uns das reiche Bild der hellenischen Kunst; was kaum ein anderer Lebender wagen kann, gelingt ihm, weil er, Dank seinen ebenso umfassenden wie gründlichen Studien über die markigsten Züge, die charaktervollsten Linien und die fettesten Farben gebietet. Daß man dem Aufsatze den ungeheuren Aufwand an Arbeit, der vorangehen mußte, nicht anmerkt, ist sein bestes Lob. Er weiß uns gleichsam spielend mitten in die wichtigsten archäologischen Probleme einzuführen, wenn er von der „Restitution verlorener Kunstwerke" spricht und uns mit sicherer und leichter Hand durch das Gewirre schwebender Fragen zu leiten, wenn er von der „Polychromie der alten Sculptur" oder von dem Vorbild und der wahren Gestalt des „Apollo von Belvedere" erzählt. Mitten im Einzelnen stehend, bleibt sein Auge doch stets auf das Allgemeine gerichtet, mit Vorliebe concrete Gegen¬ stände behandelnd, wird er doch nicht den Aufgaben, die man sonst der spe¬ kulativen Forschung zuweist, fremd. Die Abhandlung über die „Mode in der alten Kunst" gibt ihm z, B. Anlaß, sich über den Begriff der Idealität zu äußern. „Der schaffende Künstler ist gebunden an die Gesetze der mensch¬ lichen Natur, vermöge welcher er schafft, an die Gesetze der ihn umgebenden Natur, welcher er nachschafft, «n die Gesetze des Stoffes, in welchem er schaffend bildet. Diese Gesetze aber, so mannigfaltig und verschiedenartig die Erscheinungen sind, in welchen sie sich offenbaren, sind ihrem Wesen nach dieselben und das Schaffen des Künstlers beruht darauf, daß er sie als iden¬ tische gemeinsam in Wirksamkeit setze. Nur einem künstlerischen Vermögen, welches durch Begabung und Bildung die in den einzelnen Factoren des künstlerischen Schaffens wirksamen Gesetze in ihrer Wurzel in sich aufgenom- Grmzboten IV. 1869. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/217>, abgerufen am 24.08.2024.