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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Beispiele auch glänzend durchführte. In seinem gedankenreichen Aufsatze über
"Beethoven und die Ausgaben seiner Werke" entwirft er humoristisch zunächst
ein Schreckbild dieser empfohlenen Methode. "Wer mit dem Worte philo¬
logische Kritik eine dunkle Vorstellung von staubigen Pergamenten und alten
Drucken, von einem Wüste von unnützen Lesarten, von unerquicklicher Wort¬
klauberei und Silbenstecherei verbindet, wer es als die Arbeit der philologischen
Kritik ansteht, um die Werke der Poesie und Kunst eine Stachelhecke zu
ziehen, welche den Zugang zu denselben erschwert und ihren Genuß stört --
dem wird nicht gerade behaglich bet dem Gedanken werden, daß diese Kritik
nun auch mit Beethoven sich zu schaffen machen soll." Jahr gibt aber dann
in einfach schlichten Worten die rechte Erklärung von der Aufgabe und
Methode philologischer Kritik. "Ihre Aufgabe ist es, das Werk eines Schrift¬
stellers -- oder Musikers -- welches durch mechanische Vervielfältigung, Ab¬
schrift oder Druck mehr oder weniger entstellt worden ist, in der Gestalt
wieder herzustellen, wie es der Urheber abgefaßt hat. Sie hat zunächst die
Ueberlieferung zu prüfen und die Quellen zu ermitteln, aus welchen mit der
größten Sicherheit die ursprüngliche Gestalt entnommen werden kann, bei
abweichenden Quellen das Urtheil zumeist durch Erörterung innerer Gründe
festzustellen. Diese setzt zunächst eine gründliche Kenntniß und bewußte Hand¬
habung der allgemeinen Gesetze voraus, unter welchen die Mittel des künst¬
lerischen Ausdrucks allein ihrem Zweck entsprechend zur Anwendung gebracht
werden können, der Logik und Grammatik, denn auch die Ausdrucksweise der
Musik wie der bildenden Kunst, wird zu einer organisirten Sprache, indem
sie festen Gesetzen der Logik und Grammatik folgt, wenn man diese auch
nicht so zu benennen gewohnt ist. Hierdurch ist zunächst der Maßstab
gegeben, um zu beurtheilen, was überhaupt möglich und nicht möglich, was
absolut falsch oder richtig ist. Allein wenn es sich um die Anwendung all¬
gemeiner Grundsätze aus ein Werk handelt, das einer bestimmten Zeit an¬
gehört, das von einem bestimmten Individuum unter bestimmten Voraus¬
setzungen hervorgebracht ist, so muß auch jene allgemeine Kenntniß durch ein¬
gehende historische Studien zu einer klaren Einsicht und zu einem sicheren
Gefühl von dem ausgebildet werden, was ein gegebenes Zeitalter, eine
gegebene Persönlichkeit künstlerisch aufzufassen und von der Form, in welcher
sie dasselbe wiederzugeben fähig war." An zahlreichen Proben, wie sie eben
dem eminenten Beethovenkenner leicht zu Gebote standen, beweist er alsbald
die Fruchtbarkeit dieser philologischen Methode.

Zeigt Jahr in seinen Schriften, gleichviel ob sie sich auf die moderne
oder die alte Kunst, auf Musiker und Dichter oder Klassiker und Maler
beziehen, dieselbe Methode, so enthüllt er auch da wie dort eine vollkommene
Einheit der Ziele. Auch als Archäolog steht er für dieselben Grundsätze ein,


Beispiele auch glänzend durchführte. In seinem gedankenreichen Aufsatze über
„Beethoven und die Ausgaben seiner Werke" entwirft er humoristisch zunächst
ein Schreckbild dieser empfohlenen Methode. „Wer mit dem Worte philo¬
logische Kritik eine dunkle Vorstellung von staubigen Pergamenten und alten
Drucken, von einem Wüste von unnützen Lesarten, von unerquicklicher Wort¬
klauberei und Silbenstecherei verbindet, wer es als die Arbeit der philologischen
Kritik ansteht, um die Werke der Poesie und Kunst eine Stachelhecke zu
ziehen, welche den Zugang zu denselben erschwert und ihren Genuß stört —
dem wird nicht gerade behaglich bet dem Gedanken werden, daß diese Kritik
nun auch mit Beethoven sich zu schaffen machen soll." Jahr gibt aber dann
in einfach schlichten Worten die rechte Erklärung von der Aufgabe und
Methode philologischer Kritik. „Ihre Aufgabe ist es, das Werk eines Schrift¬
stellers — oder Musikers — welches durch mechanische Vervielfältigung, Ab¬
schrift oder Druck mehr oder weniger entstellt worden ist, in der Gestalt
wieder herzustellen, wie es der Urheber abgefaßt hat. Sie hat zunächst die
Ueberlieferung zu prüfen und die Quellen zu ermitteln, aus welchen mit der
größten Sicherheit die ursprüngliche Gestalt entnommen werden kann, bei
abweichenden Quellen das Urtheil zumeist durch Erörterung innerer Gründe
festzustellen. Diese setzt zunächst eine gründliche Kenntniß und bewußte Hand¬
habung der allgemeinen Gesetze voraus, unter welchen die Mittel des künst¬
lerischen Ausdrucks allein ihrem Zweck entsprechend zur Anwendung gebracht
werden können, der Logik und Grammatik, denn auch die Ausdrucksweise der
Musik wie der bildenden Kunst, wird zu einer organisirten Sprache, indem
sie festen Gesetzen der Logik und Grammatik folgt, wenn man diese auch
nicht so zu benennen gewohnt ist. Hierdurch ist zunächst der Maßstab
gegeben, um zu beurtheilen, was überhaupt möglich und nicht möglich, was
absolut falsch oder richtig ist. Allein wenn es sich um die Anwendung all¬
gemeiner Grundsätze aus ein Werk handelt, das einer bestimmten Zeit an¬
gehört, das von einem bestimmten Individuum unter bestimmten Voraus¬
setzungen hervorgebracht ist, so muß auch jene allgemeine Kenntniß durch ein¬
gehende historische Studien zu einer klaren Einsicht und zu einem sicheren
Gefühl von dem ausgebildet werden, was ein gegebenes Zeitalter, eine
gegebene Persönlichkeit künstlerisch aufzufassen und von der Form, in welcher
sie dasselbe wiederzugeben fähig war." An zahlreichen Proben, wie sie eben
dem eminenten Beethovenkenner leicht zu Gebote standen, beweist er alsbald
die Fruchtbarkeit dieser philologischen Methode.

Zeigt Jahr in seinen Schriften, gleichviel ob sie sich auf die moderne
oder die alte Kunst, auf Musiker und Dichter oder Klassiker und Maler
beziehen, dieselbe Methode, so enthüllt er auch da wie dort eine vollkommene
Einheit der Ziele. Auch als Archäolog steht er für dieselben Grundsätze ein,


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[0215] Beispiele auch glänzend durchführte. In seinem gedankenreichen Aufsatze über „Beethoven und die Ausgaben seiner Werke" entwirft er humoristisch zunächst ein Schreckbild dieser empfohlenen Methode. „Wer mit dem Worte philo¬ logische Kritik eine dunkle Vorstellung von staubigen Pergamenten und alten Drucken, von einem Wüste von unnützen Lesarten, von unerquicklicher Wort¬ klauberei und Silbenstecherei verbindet, wer es als die Arbeit der philologischen Kritik ansteht, um die Werke der Poesie und Kunst eine Stachelhecke zu ziehen, welche den Zugang zu denselben erschwert und ihren Genuß stört — dem wird nicht gerade behaglich bet dem Gedanken werden, daß diese Kritik nun auch mit Beethoven sich zu schaffen machen soll." Jahr gibt aber dann in einfach schlichten Worten die rechte Erklärung von der Aufgabe und Methode philologischer Kritik. „Ihre Aufgabe ist es, das Werk eines Schrift¬ stellers — oder Musikers — welches durch mechanische Vervielfältigung, Ab¬ schrift oder Druck mehr oder weniger entstellt worden ist, in der Gestalt wieder herzustellen, wie es der Urheber abgefaßt hat. Sie hat zunächst die Ueberlieferung zu prüfen und die Quellen zu ermitteln, aus welchen mit der größten Sicherheit die ursprüngliche Gestalt entnommen werden kann, bei abweichenden Quellen das Urtheil zumeist durch Erörterung innerer Gründe festzustellen. Diese setzt zunächst eine gründliche Kenntniß und bewußte Hand¬ habung der allgemeinen Gesetze voraus, unter welchen die Mittel des künst¬ lerischen Ausdrucks allein ihrem Zweck entsprechend zur Anwendung gebracht werden können, der Logik und Grammatik, denn auch die Ausdrucksweise der Musik wie der bildenden Kunst, wird zu einer organisirten Sprache, indem sie festen Gesetzen der Logik und Grammatik folgt, wenn man diese auch nicht so zu benennen gewohnt ist. Hierdurch ist zunächst der Maßstab gegeben, um zu beurtheilen, was überhaupt möglich und nicht möglich, was absolut falsch oder richtig ist. Allein wenn es sich um die Anwendung all¬ gemeiner Grundsätze aus ein Werk handelt, das einer bestimmten Zeit an¬ gehört, das von einem bestimmten Individuum unter bestimmten Voraus¬ setzungen hervorgebracht ist, so muß auch jene allgemeine Kenntniß durch ein¬ gehende historische Studien zu einer klaren Einsicht und zu einem sicheren Gefühl von dem ausgebildet werden, was ein gegebenes Zeitalter, eine gegebene Persönlichkeit künstlerisch aufzufassen und von der Form, in welcher sie dasselbe wiederzugeben fähig war." An zahlreichen Proben, wie sie eben dem eminenten Beethovenkenner leicht zu Gebote standen, beweist er alsbald die Fruchtbarkeit dieser philologischen Methode. Zeigt Jahr in seinen Schriften, gleichviel ob sie sich auf die moderne oder die alte Kunst, auf Musiker und Dichter oder Klassiker und Maler beziehen, dieselbe Methode, so enthüllt er auch da wie dort eine vollkommene Einheit der Ziele. Auch als Archäolog steht er für dieselben Grundsätze ein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/215>, abgerufen am 22.07.2024.