Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.Dieser Ur-Jnsulaner hat von Jugend auf Mancherlei über den Continent Inzwischen waren wir in Dover angelangt, wo ich zwei Ferientage zu Dieser Ur-Jnsulaner hat von Jugend auf Mancherlei über den Continent Inzwischen waren wir in Dover angelangt, wo ich zwei Ferientage zu <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0154" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121909"/> <p xml:id="ID_396"> Dieser Ur-Jnsulaner hat von Jugend auf Mancherlei über den Continent<lb/> läuten hören, viel Glimpfliches, noch mehr Unglimpfliches, je nach dem po¬<lb/> litischen Wind und Wetter. Er weiß ungefähr, daß die Deutschen furchtbar<lb/> gelehrig sind und daß die Franzosen von heutzutage keine gebratenen Kinder<lb/> essen. Doch sind beide in ihrer Kost, ihren Moden und Manieren merk¬<lb/> würdig unenglisch und unbegreiflich. Es wird ihm außerdem so schwer, sie<lb/> von den zahllos durch einander wimmelnden anderen Nationalitäten des<lb/> Festlandes, die sich fortwährend zanken und doch in hundert Stücken gleichen,<lb/> zu unterscheiden; und alle zusammen reichen einem Engländer nicht das<lb/> Wasser. Erscheint doch uns, was man über die Eigenthümlichkeiten Eng¬<lb/> lands erzählt, oft seltsam, verworren und verschroben. Grade so kommt dem<lb/> Stock-Engländer der bunte Continent wie ein verrücktes Labyrinth vor. Und<lb/> da er nicht an Kosmopolitismus leidet, so hat er vor Allem das Gefühl,<lb/> daß der ganze Wirrwarr ihn nichts angeht. Gleichgültig schweift sein Blick<lb/> über den Continent hinweg wie über eine Wasserwüste, und ruht auf den<lb/> fernen Küsten und wilden Landstrichen, wo der gemeinste englische Arbeiter<lb/> mit unendlicher Ueberlegenheit auftritt, wo er schaffen und herrschen, wo er<lb/> ein kleines Ebenbild von England aufbauen helfen oder sich die Goldflügel<lb/> wachsen lassen kann, um nach seiner gelobten alten Insel mit Glanz zurück¬<lb/> zukehren. Wenn die arme Anne oder Jane die Noth des Lebens drückt,<lb/> wenn sie in der Heimath kein warmes Nest mehr findet und mit ihrem<lb/> Robert oder John in die draußige Welt hinziehen möchte, so steht sie in Ge¬<lb/> danken am Ufer lange Tage, das Land der Kaffern mit der Seele suchend.</p><lb/> <p xml:id="ID_397" next="#ID_398"> Inzwischen waren wir in Dover angelangt, wo ich zwei Ferientage zu<lb/> verbringen dachte. Vom Strande aus betrachtet hat Dover mit seinem<lb/> hohen Schloß am Meere gegen Morgen und mit der breiten grauen Fels¬<lb/> wand, die hoch über Mast- und Thurmspitzen und Rauchsäulen hin gegen<lb/> Abend zieht, ein stolzes und dabei nicht unfreundliches Aussehen. Die Meer¬<lb/> enge ist hier, bevor sie sich zur Nordsee erweitert, am engsten — nur 21 engl.<lb/> Meilen breit — und ihre Wogen schlummern selten; mit zornigem Donner<lb/> hüten sie die alte Pforte des Königreichs. Das Baden ist hier nicht immer<lb/> ungefährlich, stärkt aber durch den mächtigen Wellenschlag; und lohnend ist<lb/> in der Brise ein Spaziergang über die Dünen, welche den Ort überragen,<lb/> am Klippenrand — an den „Zinnen Albions hin", sagt der lyrische Patriot —<lb/> gegen Folkestone zu. Der Weg führt „den Shakespeare" hinauf. „Den<lb/> Shakespeare" kurzweg nennen Manche die im Lear geschilderte steil über¬<lb/> hängende Klippe, die am höchsten aus der grauen Felswand sich hervorhebt<lb/> und auf deren mehr dunkelfarbigem Busen hie und da Seefenchel wächst.<lb/> Eine Strecke weit begleitete mich ein mit zwei Medaillen geschmückter Ser¬<lb/> geant, an den ich eine Frage nach dem Fortgang der Festungsbauten ge-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0154]
Dieser Ur-Jnsulaner hat von Jugend auf Mancherlei über den Continent
läuten hören, viel Glimpfliches, noch mehr Unglimpfliches, je nach dem po¬
litischen Wind und Wetter. Er weiß ungefähr, daß die Deutschen furchtbar
gelehrig sind und daß die Franzosen von heutzutage keine gebratenen Kinder
essen. Doch sind beide in ihrer Kost, ihren Moden und Manieren merk¬
würdig unenglisch und unbegreiflich. Es wird ihm außerdem so schwer, sie
von den zahllos durch einander wimmelnden anderen Nationalitäten des
Festlandes, die sich fortwährend zanken und doch in hundert Stücken gleichen,
zu unterscheiden; und alle zusammen reichen einem Engländer nicht das
Wasser. Erscheint doch uns, was man über die Eigenthümlichkeiten Eng¬
lands erzählt, oft seltsam, verworren und verschroben. Grade so kommt dem
Stock-Engländer der bunte Continent wie ein verrücktes Labyrinth vor. Und
da er nicht an Kosmopolitismus leidet, so hat er vor Allem das Gefühl,
daß der ganze Wirrwarr ihn nichts angeht. Gleichgültig schweift sein Blick
über den Continent hinweg wie über eine Wasserwüste, und ruht auf den
fernen Küsten und wilden Landstrichen, wo der gemeinste englische Arbeiter
mit unendlicher Ueberlegenheit auftritt, wo er schaffen und herrschen, wo er
ein kleines Ebenbild von England aufbauen helfen oder sich die Goldflügel
wachsen lassen kann, um nach seiner gelobten alten Insel mit Glanz zurück¬
zukehren. Wenn die arme Anne oder Jane die Noth des Lebens drückt,
wenn sie in der Heimath kein warmes Nest mehr findet und mit ihrem
Robert oder John in die draußige Welt hinziehen möchte, so steht sie in Ge¬
danken am Ufer lange Tage, das Land der Kaffern mit der Seele suchend.
Inzwischen waren wir in Dover angelangt, wo ich zwei Ferientage zu
verbringen dachte. Vom Strande aus betrachtet hat Dover mit seinem
hohen Schloß am Meere gegen Morgen und mit der breiten grauen Fels¬
wand, die hoch über Mast- und Thurmspitzen und Rauchsäulen hin gegen
Abend zieht, ein stolzes und dabei nicht unfreundliches Aussehen. Die Meer¬
enge ist hier, bevor sie sich zur Nordsee erweitert, am engsten — nur 21 engl.
Meilen breit — und ihre Wogen schlummern selten; mit zornigem Donner
hüten sie die alte Pforte des Königreichs. Das Baden ist hier nicht immer
ungefährlich, stärkt aber durch den mächtigen Wellenschlag; und lohnend ist
in der Brise ein Spaziergang über die Dünen, welche den Ort überragen,
am Klippenrand — an den „Zinnen Albions hin", sagt der lyrische Patriot —
gegen Folkestone zu. Der Weg führt „den Shakespeare" hinauf. „Den
Shakespeare" kurzweg nennen Manche die im Lear geschilderte steil über¬
hängende Klippe, die am höchsten aus der grauen Felswand sich hervorhebt
und auf deren mehr dunkelfarbigem Busen hie und da Seefenchel wächst.
Eine Strecke weit begleitete mich ein mit zwei Medaillen geschmückter Ser¬
geant, an den ich eine Frage nach dem Fortgang der Festungsbauten ge-
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