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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Das waren Ur-Jnsulaner. eine Classe, die in allen Theilen des Reiches
noch ziemlich stark vertreten ist. In den unteren Regionen des hochgethürm-
ten gesellschaftlichen Gebäudes von England verrathen die täglichen Plaude¬
reien oft eine sehr ausgedehnte, aber etwas einseitige Völkerkunde. Da wird
von Japan und Neuseeland, von Eskimos und Negern mit Eifer erzählt und
gesprochen, während die nächstgelegenen Orte des Continents den Sprechenden
äußerst fern zu liegen und wie in den Nebel eines unsicheren Hörensagens
gehüllt scheinen. Der kleine Mann lobt natürlich seine Heimath so oft als mög¬
lich und verfährt dabei mit einer eingeborenen diplomatischen Schlauheit, indem
er England am liebsten mit jenen Ländern vergleicht, die am tiefsten unter
ihm stehen. Jane und John oder Anne und Robert sitzen Abends in der
Küche beim Thee, und ihr illustrirtes Pennyblatt zeigt ihnen deutlich, wie im
hohen Norden das arme Schiff zwischen Eisbergen zerquetscht wird und wie
am Aequator das Erdbeben ein Dorf in der Secunde schluckt. Dann ist
10 gegen 1 zu wetten, daß er oder sie die Betrachtung anstellt: "Gottlob,
wir haben keine Erdbeben und Eisberge, keine Tiger und gistigen Riesen¬
schlangen. Lieber ein Bischen Dunst und grauen Himmel als ewigen Sonnen¬
schein mit Schrecken. Es geht doch nichts über unser englisches Klima." --
Sie lesen ein andermal von den Grausamkeiten des Königs von Dahomey
und den bestialischer Bräuchen der Kannibalen. "Das kommt daher", sagt
Anne, "daß diese unglücklichen Geschöpfe keine Erziehung haben. Es gibt
dort keine Gentlemen, von denen sie Lebensart lernen könnten. Wenn Einer
auch betteln gehen muß, sollte er jeden Morgen seinem Schöpfer auf den
Knien danken, daß er in England geboren ist." -- Zuweilen jedoch ist in
Hütten und Palästen von nichts als irgend einem englischen Grundübel die
Rede; es trifft sich, daß die Wirthschaft in den Armenwerkhäusern "schon
wieder" zum Himmel reicht oder daß "schon wieder" in Spitalfields eine
Familie verhungert ist. In solchen Fällen folgt in der Küche auf den
Seufzer der Betrübniß die patriotische Nutzanwendung: "Wenn dergleichen
sogar bei uns vorkommt, da kann man sich denken, wie schrecklich es erst
draußen zugehen muß, in den Ländern, wo sie ja ,keine Verfassung und
nichts' haben!" -- Eigenthümlich ist auch der Gebrauch, den man da von
dem Begriff: "Ein Engländer" macht. -- "Ein Engländer" ertrinkt nicht
gern. -- "Ein Engländer" läßt sich nicht gern unschuldig aufhängen. --
"Ein Engländer" ist gern gesund.und bei Geld. -- "Ein Engländer" heißt
also so viel wie: Der Mensch. Und häusig belehren diese Leute den Fremden
mit wohlwollender Miene darüber, daß "ein Engländer" das unenglische
Todtstechen von hinten durchaus nicht billigen könne und daß er überhaupt
die Tugend viel höher achte als das Laster.


Grenzboten IV. 186V. 19

Das waren Ur-Jnsulaner. eine Classe, die in allen Theilen des Reiches
noch ziemlich stark vertreten ist. In den unteren Regionen des hochgethürm-
ten gesellschaftlichen Gebäudes von England verrathen die täglichen Plaude¬
reien oft eine sehr ausgedehnte, aber etwas einseitige Völkerkunde. Da wird
von Japan und Neuseeland, von Eskimos und Negern mit Eifer erzählt und
gesprochen, während die nächstgelegenen Orte des Continents den Sprechenden
äußerst fern zu liegen und wie in den Nebel eines unsicheren Hörensagens
gehüllt scheinen. Der kleine Mann lobt natürlich seine Heimath so oft als mög¬
lich und verfährt dabei mit einer eingeborenen diplomatischen Schlauheit, indem
er England am liebsten mit jenen Ländern vergleicht, die am tiefsten unter
ihm stehen. Jane und John oder Anne und Robert sitzen Abends in der
Küche beim Thee, und ihr illustrirtes Pennyblatt zeigt ihnen deutlich, wie im
hohen Norden das arme Schiff zwischen Eisbergen zerquetscht wird und wie
am Aequator das Erdbeben ein Dorf in der Secunde schluckt. Dann ist
10 gegen 1 zu wetten, daß er oder sie die Betrachtung anstellt: „Gottlob,
wir haben keine Erdbeben und Eisberge, keine Tiger und gistigen Riesen¬
schlangen. Lieber ein Bischen Dunst und grauen Himmel als ewigen Sonnen¬
schein mit Schrecken. Es geht doch nichts über unser englisches Klima." —
Sie lesen ein andermal von den Grausamkeiten des Königs von Dahomey
und den bestialischer Bräuchen der Kannibalen. „Das kommt daher", sagt
Anne, „daß diese unglücklichen Geschöpfe keine Erziehung haben. Es gibt
dort keine Gentlemen, von denen sie Lebensart lernen könnten. Wenn Einer
auch betteln gehen muß, sollte er jeden Morgen seinem Schöpfer auf den
Knien danken, daß er in England geboren ist." — Zuweilen jedoch ist in
Hütten und Palästen von nichts als irgend einem englischen Grundübel die
Rede; es trifft sich, daß die Wirthschaft in den Armenwerkhäusern „schon
wieder" zum Himmel reicht oder daß „schon wieder" in Spitalfields eine
Familie verhungert ist. In solchen Fällen folgt in der Küche auf den
Seufzer der Betrübniß die patriotische Nutzanwendung: „Wenn dergleichen
sogar bei uns vorkommt, da kann man sich denken, wie schrecklich es erst
draußen zugehen muß, in den Ländern, wo sie ja ,keine Verfassung und
nichts' haben!" — Eigenthümlich ist auch der Gebrauch, den man da von
dem Begriff: „Ein Engländer" macht. — „Ein Engländer" ertrinkt nicht
gern. — „Ein Engländer" läßt sich nicht gern unschuldig aufhängen. —
„Ein Engländer" ist gern gesund.und bei Geld. — „Ein Engländer" heißt
also so viel wie: Der Mensch. Und häusig belehren diese Leute den Fremden
mit wohlwollender Miene darüber, daß „ein Engländer" das unenglische
Todtstechen von hinten durchaus nicht billigen könne und daß er überhaupt
die Tugend viel höher achte als das Laster.


Grenzboten IV. 186V. 19
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[0153] Das waren Ur-Jnsulaner. eine Classe, die in allen Theilen des Reiches noch ziemlich stark vertreten ist. In den unteren Regionen des hochgethürm- ten gesellschaftlichen Gebäudes von England verrathen die täglichen Plaude¬ reien oft eine sehr ausgedehnte, aber etwas einseitige Völkerkunde. Da wird von Japan und Neuseeland, von Eskimos und Negern mit Eifer erzählt und gesprochen, während die nächstgelegenen Orte des Continents den Sprechenden äußerst fern zu liegen und wie in den Nebel eines unsicheren Hörensagens gehüllt scheinen. Der kleine Mann lobt natürlich seine Heimath so oft als mög¬ lich und verfährt dabei mit einer eingeborenen diplomatischen Schlauheit, indem er England am liebsten mit jenen Ländern vergleicht, die am tiefsten unter ihm stehen. Jane und John oder Anne und Robert sitzen Abends in der Küche beim Thee, und ihr illustrirtes Pennyblatt zeigt ihnen deutlich, wie im hohen Norden das arme Schiff zwischen Eisbergen zerquetscht wird und wie am Aequator das Erdbeben ein Dorf in der Secunde schluckt. Dann ist 10 gegen 1 zu wetten, daß er oder sie die Betrachtung anstellt: „Gottlob, wir haben keine Erdbeben und Eisberge, keine Tiger und gistigen Riesen¬ schlangen. Lieber ein Bischen Dunst und grauen Himmel als ewigen Sonnen¬ schein mit Schrecken. Es geht doch nichts über unser englisches Klima." — Sie lesen ein andermal von den Grausamkeiten des Königs von Dahomey und den bestialischer Bräuchen der Kannibalen. „Das kommt daher", sagt Anne, „daß diese unglücklichen Geschöpfe keine Erziehung haben. Es gibt dort keine Gentlemen, von denen sie Lebensart lernen könnten. Wenn Einer auch betteln gehen muß, sollte er jeden Morgen seinem Schöpfer auf den Knien danken, daß er in England geboren ist." — Zuweilen jedoch ist in Hütten und Palästen von nichts als irgend einem englischen Grundübel die Rede; es trifft sich, daß die Wirthschaft in den Armenwerkhäusern „schon wieder" zum Himmel reicht oder daß „schon wieder" in Spitalfields eine Familie verhungert ist. In solchen Fällen folgt in der Küche auf den Seufzer der Betrübniß die patriotische Nutzanwendung: „Wenn dergleichen sogar bei uns vorkommt, da kann man sich denken, wie schrecklich es erst draußen zugehen muß, in den Ländern, wo sie ja ,keine Verfassung und nichts' haben!" — Eigenthümlich ist auch der Gebrauch, den man da von dem Begriff: „Ein Engländer" macht. — „Ein Engländer" ertrinkt nicht gern. — „Ein Engländer" läßt sich nicht gern unschuldig aufhängen. — „Ein Engländer" ist gern gesund.und bei Geld. — „Ein Engländer" heißt also so viel wie: Der Mensch. Und häusig belehren diese Leute den Fremden mit wohlwollender Miene darüber, daß „ein Engländer" das unenglische Todtstechen von hinten durchaus nicht billigen könne und daß er überhaupt die Tugend viel höher achte als das Laster. Grenzboten IV. 186V. 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/153>, abgerufen am 22.07.2024.