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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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zählungen, die aus der Urzeit der arischen Völkerfamilie herrühren oder von
den Germanen selbst gebildet wurden, und aus den durch Uebersetzungen in
christlicher Zeit hierher verpflanzten indischen Märchenstoffen, dann wird es
fast ganz unmöglich sein, das Alter und die Herkunft der einzelnen Bestand¬
theile dieser Dichtungen auch nur mit einiger Sicherheit zu bestimmen. Erst,
wenn diese und verwandte Studien viel weiter vorgeschritten sein werden,
man die Eigenthümlichkeiten der Volkspoesie jeder Nation viel schärfer erkannt
haben wird, als dieses bisher möglich war, erst dann wird, wenn überhaupt
jemals, eine Trennung der Elemente möglich sein, aus denen der Strom der
Märchenpoesie zusammengeflossen ist, und der nun schon durch lange Jahr¬
hunderte vereint die geistigen Bedürfnisse unzählicher Menschen gestillt hat,
ohne daß diese fragen, woher ihnen dieser Lebensquell entströmt sei.

Ist aber dieses die Sachlage auf unserm Gebiete, dann wird man auch
noch in das Bekenntniß, oder wenn man lieber will, in die Klage Liebrechts
einstimmen dürfen. "Immer wieder von Neuem drängt sich Jedem, der die
dichterischen Erzeugnisse der verschiedenen Völker durchforscht, bei weiterem
Fortschreiten auf diesem Gebiete die Betrachtung auf, wie schwierig bei ge¬
gebener Gelegenheit die Grenzlinie zwischen der neuschaffenden Thätigkeit des
menschlichen Geistes und seiner blos wiedergebärenden Triebkraft zu ziehen
sei, oder, um'mich deutlicher auszudrücken, wie schwierig sich in jedem ein¬
zelnen Falle die Entscheidung treffen läßt, ob irgend ein vorliegendes poeti¬
sches Product ein ursprüngliches oder ein anderes woher entlehntes sei.
Es können aber selbstverständlich nur solche Dichtungen Anlaß zu dieser Frage
geben, die eine innere oder äußere Verwandtschaft mit anderen besitzen oder
zu besitzen scheinen. Daß nämlich diese Verwandtschaft nicht schlechthin
und ohne Weiteres Entlehnung annehmen lasse, ist hinlänglich bekannt,
indem bereits darauf hingewiesen worden, wie es eine Eigenthümlichkeit des
menschlichen Geistes sei, selbst in den von einander fernsten Zonen Gleich¬
artiges zu erzeugen." Und es wird ferner nach alledem Niemanden Wunder
nehmen, wenn noch heute bei der wissenschaftlichen Durchforschung eines
Märchenkreises, trotz aller Untersuchungen, doch noch fast dieselbe Methode
angewendet und nach denselben Gesichtspunkten gearbeitet wird wie früher.
Niemand wird sich freilich die Resultate jener Forschungen im Einzelnen
entgehen lassen, aber sich doch durch das Machtwort des berühmten
Orientalisten, daß die Stoffe aller Märchen in unserer Aera aus Indien nach
dem Westen geflossen seien, nicht abhalten lassen, selbst in den ältesten Er¬
zeugnissen der griechischen Literatur nach Märchen zu suchen.

Von diesem Standpunkt aus hat auch der Verfasser obengenannter
Schrift seine gelehrten Untersuchungen über einige Erzählungen der Odyssee
angestellt und sich nicht abhalten lassen von "altgriechischen Märchen in der


Grenzboten IV. 18K9. 14

zählungen, die aus der Urzeit der arischen Völkerfamilie herrühren oder von
den Germanen selbst gebildet wurden, und aus den durch Uebersetzungen in
christlicher Zeit hierher verpflanzten indischen Märchenstoffen, dann wird es
fast ganz unmöglich sein, das Alter und die Herkunft der einzelnen Bestand¬
theile dieser Dichtungen auch nur mit einiger Sicherheit zu bestimmen. Erst,
wenn diese und verwandte Studien viel weiter vorgeschritten sein werden,
man die Eigenthümlichkeiten der Volkspoesie jeder Nation viel schärfer erkannt
haben wird, als dieses bisher möglich war, erst dann wird, wenn überhaupt
jemals, eine Trennung der Elemente möglich sein, aus denen der Strom der
Märchenpoesie zusammengeflossen ist, und der nun schon durch lange Jahr¬
hunderte vereint die geistigen Bedürfnisse unzählicher Menschen gestillt hat,
ohne daß diese fragen, woher ihnen dieser Lebensquell entströmt sei.

Ist aber dieses die Sachlage auf unserm Gebiete, dann wird man auch
noch in das Bekenntniß, oder wenn man lieber will, in die Klage Liebrechts
einstimmen dürfen. „Immer wieder von Neuem drängt sich Jedem, der die
dichterischen Erzeugnisse der verschiedenen Völker durchforscht, bei weiterem
Fortschreiten auf diesem Gebiete die Betrachtung auf, wie schwierig bei ge¬
gebener Gelegenheit die Grenzlinie zwischen der neuschaffenden Thätigkeit des
menschlichen Geistes und seiner blos wiedergebärenden Triebkraft zu ziehen
sei, oder, um'mich deutlicher auszudrücken, wie schwierig sich in jedem ein¬
zelnen Falle die Entscheidung treffen läßt, ob irgend ein vorliegendes poeti¬
sches Product ein ursprüngliches oder ein anderes woher entlehntes sei.
Es können aber selbstverständlich nur solche Dichtungen Anlaß zu dieser Frage
geben, die eine innere oder äußere Verwandtschaft mit anderen besitzen oder
zu besitzen scheinen. Daß nämlich diese Verwandtschaft nicht schlechthin
und ohne Weiteres Entlehnung annehmen lasse, ist hinlänglich bekannt,
indem bereits darauf hingewiesen worden, wie es eine Eigenthümlichkeit des
menschlichen Geistes sei, selbst in den von einander fernsten Zonen Gleich¬
artiges zu erzeugen." Und es wird ferner nach alledem Niemanden Wunder
nehmen, wenn noch heute bei der wissenschaftlichen Durchforschung eines
Märchenkreises, trotz aller Untersuchungen, doch noch fast dieselbe Methode
angewendet und nach denselben Gesichtspunkten gearbeitet wird wie früher.
Niemand wird sich freilich die Resultate jener Forschungen im Einzelnen
entgehen lassen, aber sich doch durch das Machtwort des berühmten
Orientalisten, daß die Stoffe aller Märchen in unserer Aera aus Indien nach
dem Westen geflossen seien, nicht abhalten lassen, selbst in den ältesten Er¬
zeugnissen der griechischen Literatur nach Märchen zu suchen.

Von diesem Standpunkt aus hat auch der Verfasser obengenannter
Schrift seine gelehrten Untersuchungen über einige Erzählungen der Odyssee
angestellt und sich nicht abhalten lassen von „altgriechischen Märchen in der


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[0113] zählungen, die aus der Urzeit der arischen Völkerfamilie herrühren oder von den Germanen selbst gebildet wurden, und aus den durch Uebersetzungen in christlicher Zeit hierher verpflanzten indischen Märchenstoffen, dann wird es fast ganz unmöglich sein, das Alter und die Herkunft der einzelnen Bestand¬ theile dieser Dichtungen auch nur mit einiger Sicherheit zu bestimmen. Erst, wenn diese und verwandte Studien viel weiter vorgeschritten sein werden, man die Eigenthümlichkeiten der Volkspoesie jeder Nation viel schärfer erkannt haben wird, als dieses bisher möglich war, erst dann wird, wenn überhaupt jemals, eine Trennung der Elemente möglich sein, aus denen der Strom der Märchenpoesie zusammengeflossen ist, und der nun schon durch lange Jahr¬ hunderte vereint die geistigen Bedürfnisse unzählicher Menschen gestillt hat, ohne daß diese fragen, woher ihnen dieser Lebensquell entströmt sei. Ist aber dieses die Sachlage auf unserm Gebiete, dann wird man auch noch in das Bekenntniß, oder wenn man lieber will, in die Klage Liebrechts einstimmen dürfen. „Immer wieder von Neuem drängt sich Jedem, der die dichterischen Erzeugnisse der verschiedenen Völker durchforscht, bei weiterem Fortschreiten auf diesem Gebiete die Betrachtung auf, wie schwierig bei ge¬ gebener Gelegenheit die Grenzlinie zwischen der neuschaffenden Thätigkeit des menschlichen Geistes und seiner blos wiedergebärenden Triebkraft zu ziehen sei, oder, um'mich deutlicher auszudrücken, wie schwierig sich in jedem ein¬ zelnen Falle die Entscheidung treffen läßt, ob irgend ein vorliegendes poeti¬ sches Product ein ursprüngliches oder ein anderes woher entlehntes sei. Es können aber selbstverständlich nur solche Dichtungen Anlaß zu dieser Frage geben, die eine innere oder äußere Verwandtschaft mit anderen besitzen oder zu besitzen scheinen. Daß nämlich diese Verwandtschaft nicht schlechthin und ohne Weiteres Entlehnung annehmen lasse, ist hinlänglich bekannt, indem bereits darauf hingewiesen worden, wie es eine Eigenthümlichkeit des menschlichen Geistes sei, selbst in den von einander fernsten Zonen Gleich¬ artiges zu erzeugen." Und es wird ferner nach alledem Niemanden Wunder nehmen, wenn noch heute bei der wissenschaftlichen Durchforschung eines Märchenkreises, trotz aller Untersuchungen, doch noch fast dieselbe Methode angewendet und nach denselben Gesichtspunkten gearbeitet wird wie früher. Niemand wird sich freilich die Resultate jener Forschungen im Einzelnen entgehen lassen, aber sich doch durch das Machtwort des berühmten Orientalisten, daß die Stoffe aller Märchen in unserer Aera aus Indien nach dem Westen geflossen seien, nicht abhalten lassen, selbst in den ältesten Er¬ zeugnissen der griechischen Literatur nach Märchen zu suchen. Von diesem Standpunkt aus hat auch der Verfasser obengenannter Schrift seine gelehrten Untersuchungen über einige Erzählungen der Odyssee angestellt und sich nicht abhalten lassen von „altgriechischen Märchen in der Grenzboten IV. 18K9. 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/113>, abgerufen am 24.08.2024.