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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Vergleichung einer ganzen Anzahl asiatischer und nordischer Märchen hat er
die Uebereinstimmung derselben mit der Erzählung der Odyssee von dem
Abenteuer des Odysseus aus der Insel der Cyclopen gezeigt und den Ur-
mythus, aus dem dieses Märchen entstanden ist, aufzudecken gesucht. Die
ausgezeichnetesten Kenner griechischen Alterthums und griechischer Mythologie,
wie Welker z. B, haben sich gegen derartige Versuche nichts weniger als
abwehrend verhalten und anerkannt, daß während der viel ältere Titanen¬
mythus nur drei Cyclopen kennt, die homerischen Cyclopen, die zu einem
wilden Hirtenvolke auf Trinakria geworden sind, "schon etwas Märchen¬
haftes haben."

Aber Niemand, der derartige Untersuchungen angestellt oder nur die
Forschungen Anderer geprüft hat, wird sich über die Beweiskraft und die
Sicherheit der durch sie gewonnenen Resultate irgend welchen Illusionen
hingeben können. Mit mathematischer Gewißheit läßt sich ja auf diesem
Gebiete überhaupt Nichts sicher stellen. Aber selbst d i e Gewißheit wird sich
hier nie, oder doch nur in den seltensten Fällen erreichen lassen, die sonst bei
Vergleichung anderer poetischen Productionen verschiedener Völker über den
Zusammenhang derselben gewonnen werden kann. Man vermag, wenn man
die Umbildungen und Verwandlungen eines Märchenstoffes im Einzelnen
verfolgen möchte, sich gar häufig nicht der Erinnerung an eine Natur¬
beobachtung zu erwehren, die ein Jeder von uns gemacht hat, wenn er von
einem hohen Berge herab dem Heraufziehen und der Bildung von Wolken
zugeschaut und eine Wolken genauer zu verfolgen sich vorgenommen hat.
So veränderlich, luftig und zerfließend ist hier Alles. Und doch haben die
Untersuchungen Benfeys über die Verbreitung dieser lockersten Gebilde der
Volkspoesie in einer Beziehung feste Anhaltspunkte für eine wissenschaftliche
Behandlung derselben geliefert und sind dadurch zu Fundamentalunter¬
suchungen auf diesem Gebiete geworden. Denn seit ihnen ist es nicht mehr
möglich, ganz kritiklos zur Feststellung und Erklärung eines Märchens eine
beliebige Anzahl anderer Märchen, die sich bei den verschiedensten Völkern
Asiens und Europas finden, zur Vergleichung herbeizuziehen. Es wird jetzt
hier verlangt, daß, gleichwie ein wissenschaftlicher Historiker das Verhältniß
selner Quellen, ihre Entstehung, ihre Verwandtschaft und ihre Abhängigkeit
von einander geprüft haben muß, ehe er an die Darstellung seines Gegen¬
standes geht, der Märchenforscher sich Rechenschaft über den Zusammenhang
oder die Selbständigkeit der von ihnen zur Vergleichung herbeigezogenen
Märchen gegeben habe. Denn nachdem Benfey von einer ganzen Anzahl
von Märchen nachgewiesen hat, daß dieselben nicht, so zu sagen, autochthon,
sondern aus literarischem Wege niedergeschlagen von einem Volk zum
andern gewandert sind, ist es doch nothwendig, daß, wenn man Märchen


Vergleichung einer ganzen Anzahl asiatischer und nordischer Märchen hat er
die Uebereinstimmung derselben mit der Erzählung der Odyssee von dem
Abenteuer des Odysseus aus der Insel der Cyclopen gezeigt und den Ur-
mythus, aus dem dieses Märchen entstanden ist, aufzudecken gesucht. Die
ausgezeichnetesten Kenner griechischen Alterthums und griechischer Mythologie,
wie Welker z. B, haben sich gegen derartige Versuche nichts weniger als
abwehrend verhalten und anerkannt, daß während der viel ältere Titanen¬
mythus nur drei Cyclopen kennt, die homerischen Cyclopen, die zu einem
wilden Hirtenvolke auf Trinakria geworden sind, „schon etwas Märchen¬
haftes haben."

Aber Niemand, der derartige Untersuchungen angestellt oder nur die
Forschungen Anderer geprüft hat, wird sich über die Beweiskraft und die
Sicherheit der durch sie gewonnenen Resultate irgend welchen Illusionen
hingeben können. Mit mathematischer Gewißheit läßt sich ja auf diesem
Gebiete überhaupt Nichts sicher stellen. Aber selbst d i e Gewißheit wird sich
hier nie, oder doch nur in den seltensten Fällen erreichen lassen, die sonst bei
Vergleichung anderer poetischen Productionen verschiedener Völker über den
Zusammenhang derselben gewonnen werden kann. Man vermag, wenn man
die Umbildungen und Verwandlungen eines Märchenstoffes im Einzelnen
verfolgen möchte, sich gar häufig nicht der Erinnerung an eine Natur¬
beobachtung zu erwehren, die ein Jeder von uns gemacht hat, wenn er von
einem hohen Berge herab dem Heraufziehen und der Bildung von Wolken
zugeschaut und eine Wolken genauer zu verfolgen sich vorgenommen hat.
So veränderlich, luftig und zerfließend ist hier Alles. Und doch haben die
Untersuchungen Benfeys über die Verbreitung dieser lockersten Gebilde der
Volkspoesie in einer Beziehung feste Anhaltspunkte für eine wissenschaftliche
Behandlung derselben geliefert und sind dadurch zu Fundamentalunter¬
suchungen auf diesem Gebiete geworden. Denn seit ihnen ist es nicht mehr
möglich, ganz kritiklos zur Feststellung und Erklärung eines Märchens eine
beliebige Anzahl anderer Märchen, die sich bei den verschiedensten Völkern
Asiens und Europas finden, zur Vergleichung herbeizuziehen. Es wird jetzt
hier verlangt, daß, gleichwie ein wissenschaftlicher Historiker das Verhältniß
selner Quellen, ihre Entstehung, ihre Verwandtschaft und ihre Abhängigkeit
von einander geprüft haben muß, ehe er an die Darstellung seines Gegen¬
standes geht, der Märchenforscher sich Rechenschaft über den Zusammenhang
oder die Selbständigkeit der von ihnen zur Vergleichung herbeigezogenen
Märchen gegeben habe. Denn nachdem Benfey von einer ganzen Anzahl
von Märchen nachgewiesen hat, daß dieselben nicht, so zu sagen, autochthon,
sondern aus literarischem Wege niedergeschlagen von einem Volk zum
andern gewandert sind, ist es doch nothwendig, daß, wenn man Märchen


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[0111] Vergleichung einer ganzen Anzahl asiatischer und nordischer Märchen hat er die Uebereinstimmung derselben mit der Erzählung der Odyssee von dem Abenteuer des Odysseus aus der Insel der Cyclopen gezeigt und den Ur- mythus, aus dem dieses Märchen entstanden ist, aufzudecken gesucht. Die ausgezeichnetesten Kenner griechischen Alterthums und griechischer Mythologie, wie Welker z. B, haben sich gegen derartige Versuche nichts weniger als abwehrend verhalten und anerkannt, daß während der viel ältere Titanen¬ mythus nur drei Cyclopen kennt, die homerischen Cyclopen, die zu einem wilden Hirtenvolke auf Trinakria geworden sind, „schon etwas Märchen¬ haftes haben." Aber Niemand, der derartige Untersuchungen angestellt oder nur die Forschungen Anderer geprüft hat, wird sich über die Beweiskraft und die Sicherheit der durch sie gewonnenen Resultate irgend welchen Illusionen hingeben können. Mit mathematischer Gewißheit läßt sich ja auf diesem Gebiete überhaupt Nichts sicher stellen. Aber selbst d i e Gewißheit wird sich hier nie, oder doch nur in den seltensten Fällen erreichen lassen, die sonst bei Vergleichung anderer poetischen Productionen verschiedener Völker über den Zusammenhang derselben gewonnen werden kann. Man vermag, wenn man die Umbildungen und Verwandlungen eines Märchenstoffes im Einzelnen verfolgen möchte, sich gar häufig nicht der Erinnerung an eine Natur¬ beobachtung zu erwehren, die ein Jeder von uns gemacht hat, wenn er von einem hohen Berge herab dem Heraufziehen und der Bildung von Wolken zugeschaut und eine Wolken genauer zu verfolgen sich vorgenommen hat. So veränderlich, luftig und zerfließend ist hier Alles. Und doch haben die Untersuchungen Benfeys über die Verbreitung dieser lockersten Gebilde der Volkspoesie in einer Beziehung feste Anhaltspunkte für eine wissenschaftliche Behandlung derselben geliefert und sind dadurch zu Fundamentalunter¬ suchungen auf diesem Gebiete geworden. Denn seit ihnen ist es nicht mehr möglich, ganz kritiklos zur Feststellung und Erklärung eines Märchens eine beliebige Anzahl anderer Märchen, die sich bei den verschiedensten Völkern Asiens und Europas finden, zur Vergleichung herbeizuziehen. Es wird jetzt hier verlangt, daß, gleichwie ein wissenschaftlicher Historiker das Verhältniß selner Quellen, ihre Entstehung, ihre Verwandtschaft und ihre Abhängigkeit von einander geprüft haben muß, ehe er an die Darstellung seines Gegen¬ standes geht, der Märchenforscher sich Rechenschaft über den Zusammenhang oder die Selbständigkeit der von ihnen zur Vergleichung herbeigezogenen Märchen gegeben habe. Denn nachdem Benfey von einer ganzen Anzahl von Märchen nachgewiesen hat, daß dieselben nicht, so zu sagen, autochthon, sondern aus literarischem Wege niedergeschlagen von einem Volk zum andern gewandert sind, ist es doch nothwendig, daß, wenn man Märchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/111>, abgerufen am 22.07.2024.