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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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einbringen sollte,^erschien nicht vortheilhaft genug, und vor Allem fand man
ihn zu konservativ, zu clerical, zu günstig für den Episcopat, dessen freie
Mitwirkung angerufen werden sollte. So wurde das Project zu Fall ge¬
bracht, und seitdem hatte die Kammer ihre Zeit mit unerquicklichen, unfrucht¬
baren Discussionen verloren, denen Ricasoli durch die Auflösung ein Ende
machte, während er gleichzeitig seine College" Scialoja und Borgatti der
öffentlichen Meinung opferte. Am 10. März fanden die Neuwahlen statt,
und am 22. März wurde die neue Kammer, deren Mandat in diesem
Augenblick noch dauert, durch den König mit einer Thronrede eröffnet
welche die Ordnung der Finanzen und die administrativen Reformen in
dringender Weise als die Hauptaufgaben des Parlaments bezeichnete. Aber
trotzdem, daß die neue Provinz Venetien fast ausnahmlos regierungsfreundlich
gewählt hatte, war die Zusammensetzung der Kammer im Wesentlichen un¬
verändert geblieben, es war eine starke Linke vorhanden, die zwar nicht die
Mehrheit besaß, aber einer in sich zerklüfteten Rechten gegenüberstand. Ri¬
casoli verzichtete in Kurzem darauf, mit dieser Kammer zu regieren, und in
der Zweideutigkeit der Lage griff man zu dem Namen, welcher der gegebene
Ausdruck einer zweideutigen Lage ist, zu Ratazzi, der sich immer eine
Stellung zwischen der Rechten und der Linken zu erhalten gewußt hat, nicht
als ein Führer von überlegener Autorität über den Parteien, sondern als
ein verschlagener Schiffsmann zwischen denselben hindurchsteuernd, ohne eigent¬
liche politische Grundsätze im höheren Stil, aber jeden Augenblick bereit, die
Aussichten eines kritischen Moments für sich auszunützen, und rasch ent¬
schlossen, es mit einer Kammer zu versuchen, deren unentschiedener Charakter
seinem Talent der Intrigue den besten Spielraum bot. Für eine Politik,
die eben nur für den nächsten Tag sorgte, ist man immer wieder auf den
Advokaten von Alessandria zurückgekommen, obwohl noch jedesmal die Folgen
einer solchen Politik warnend genug ausfielen. Denn jede Amtsführung Ra-
tazzi's war wie durch ein Verhängniß mit einem nationalen Unglück bezeich¬
net. Novara wie Aspromonte sind mit seinem Namen verknüpft, und dies¬
mal hieß das Unglück Mendana. Die frivole Mißachtung eines internatio¬
nalen Vertrages, der schon darum nicht ungestraft verletzt werden konnte,
weil er mit einem Stärkeren abgeschlossen war, eines Vertrages, der vor Allem
Geduld und Treue verlangte, dann aber unzweifelhaft die Lösung eines
Problems erleichtern mußte, das nun einmal weder mit List noch mit Ge¬
walt zu lösen ist, rief nicht nur die Franzosen in die ewige Stadt zurück,
sondern warf Italien wiederum in eine jener heftigen Krisen, welche immer
wieder eine unglückliche Stockung in die Arbeit der inneren Befestigung des
Königreichs bringen, die Kräfte in unfruchtbaren Discussionen erschöpfen und
die Gehässigkeit des Parteitreibens schärfen. Inzwischen war unter dem
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einbringen sollte,^erschien nicht vortheilhaft genug, und vor Allem fand man
ihn zu konservativ, zu clerical, zu günstig für den Episcopat, dessen freie
Mitwirkung angerufen werden sollte. So wurde das Project zu Fall ge¬
bracht, und seitdem hatte die Kammer ihre Zeit mit unerquicklichen, unfrucht¬
baren Discussionen verloren, denen Ricasoli durch die Auflösung ein Ende
machte, während er gleichzeitig seine College» Scialoja und Borgatti der
öffentlichen Meinung opferte. Am 10. März fanden die Neuwahlen statt,
und am 22. März wurde die neue Kammer, deren Mandat in diesem
Augenblick noch dauert, durch den König mit einer Thronrede eröffnet
welche die Ordnung der Finanzen und die administrativen Reformen in
dringender Weise als die Hauptaufgaben des Parlaments bezeichnete. Aber
trotzdem, daß die neue Provinz Venetien fast ausnahmlos regierungsfreundlich
gewählt hatte, war die Zusammensetzung der Kammer im Wesentlichen un¬
verändert geblieben, es war eine starke Linke vorhanden, die zwar nicht die
Mehrheit besaß, aber einer in sich zerklüfteten Rechten gegenüberstand. Ri¬
casoli verzichtete in Kurzem darauf, mit dieser Kammer zu regieren, und in
der Zweideutigkeit der Lage griff man zu dem Namen, welcher der gegebene
Ausdruck einer zweideutigen Lage ist, zu Ratazzi, der sich immer eine
Stellung zwischen der Rechten und der Linken zu erhalten gewußt hat, nicht
als ein Führer von überlegener Autorität über den Parteien, sondern als
ein verschlagener Schiffsmann zwischen denselben hindurchsteuernd, ohne eigent¬
liche politische Grundsätze im höheren Stil, aber jeden Augenblick bereit, die
Aussichten eines kritischen Moments für sich auszunützen, und rasch ent¬
schlossen, es mit einer Kammer zu versuchen, deren unentschiedener Charakter
seinem Talent der Intrigue den besten Spielraum bot. Für eine Politik,
die eben nur für den nächsten Tag sorgte, ist man immer wieder auf den
Advokaten von Alessandria zurückgekommen, obwohl noch jedesmal die Folgen
einer solchen Politik warnend genug ausfielen. Denn jede Amtsführung Ra-
tazzi's war wie durch ein Verhängniß mit einem nationalen Unglück bezeich¬
net. Novara wie Aspromonte sind mit seinem Namen verknüpft, und dies¬
mal hieß das Unglück Mendana. Die frivole Mißachtung eines internatio¬
nalen Vertrages, der schon darum nicht ungestraft verletzt werden konnte,
weil er mit einem Stärkeren abgeschlossen war, eines Vertrages, der vor Allem
Geduld und Treue verlangte, dann aber unzweifelhaft die Lösung eines
Problems erleichtern mußte, das nun einmal weder mit List noch mit Ge¬
walt zu lösen ist, rief nicht nur die Franzosen in die ewige Stadt zurück,
sondern warf Italien wiederum in eine jener heftigen Krisen, welche immer
wieder eine unglückliche Stockung in die Arbeit der inneren Befestigung des
Königreichs bringen, die Kräfte in unfruchtbaren Discussionen erschöpfen und
die Gehässigkeit des Parteitreibens schärfen. Inzwischen war unter dem
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/11>, abgerufen am 22.07.2024.