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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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sonders als gewandter, allzeit schlagfertiger Polemiker erwies, gab er das
Journal "Lien" heraus, das einen geistvollen Kampf gegen die Orthodoxie
führte und heute noch das angesehenste Organ des liberalen Protestantismus
ist. Dabei fand er noch Zeit für eine ausgebreitete literarische Thätig¬
keit. Von seinen ästhetischen Studien legten seine Briefe über die schönen
Künste in Italien vom Standpunkte des religiösen Lebens (1857), von sei¬
nen geschichtlichen Forschungen der erste Band einer Geschichte der reformir-
ten Kirche von Paris (1862), eine Lebensbeschreibung von I. Calas und sei¬
ner Familie und einige kleine Monographien Zeugniß ab. Der Kaiser hatte
ihn, den Hilfsgeistlichen, mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet, was
seinen Collegen gleichfalls ein Dorn im Auge war. Kurz, man darf es
sagen, und es ist in öffentlicher Versammlung ausgesprochen worden: es war
der Neid, der die Opposition gegen ihn schärfte und zum Hasse steigerte.

Aber es kam darauf an, greifbarere Gründe aufzufinden, um das Vor¬
gehen gegen ihn zu beschönigen, es galt, eine passende Zeit und Gelegenheit
abzuwarten. Diese schienen gekommen, als das Leben Jesu von Renan ver¬
öffentlicht wurde und dessen unglaubliche Popularität die Orthodoxie beider
Lager erschütterte. Die Katholiken halfen sich durch Hirtenbriefe, Pamphlete,
durch den Index. Den Reformirten stand kein Index, zu Gebot, aber sie
zögerten nicht, jetzt eine Maßregel durchzusetzen, zu der sie schon längst ent¬
schlossen waren. Viermal war von drei zu drei Jahren die Suffraganstelle
A. Coquerels ohne Widerspruch erneuert worden; 1861 wurde sie ihm. dem
bereits Verdächtigen, nur auf zwei Jahre erneuert; im November 1863 schlug
Martin-Paschoud abermals vor, die Suffraganstelle, und zwar diesmal defini¬
tiv, seinem bisherigen Hilfsgeistlichen zu übertragen.

Der Presbyterialrath übergab die Sache einer Commission von drei
Geistlichen und vier Aeltesten, welche einen der einseitigsten Fanatiker,
Mettetal, Divisionschef auf der Polizeipräsectur, zu ihrem Berichterstatter
wählte. Der Bericht, der in der Sitzung vom S. Februar 1864 verlesen
wurde, enthielt, ohne zu einem Schluß zu kommen, eine Reihe von Be¬
schwerden gegen Coquerel. Die Debatte wurde auf die Sitzung vom 19. Fe¬
bruar vertagt, in welcher Coquerel selbst erschien, sich mit Würde gegen die
Anschuldigungen vertheidigte und sich offen zu den angezogenen Stellen be¬
kannte, die man gegen ihn zusammengelesen hatte. Die Entscheidung selbst
wurde in der Sitzung vom 26- Februar gefällt. Mit 12 Stimmen gegen 3
wurde der Antrag Martin-Paschouds verworfen und somit die Nichtbestäti-
gung Coquerels ausgesprochen. Die drei Stimmen gehörten Coquerel dem
Vater, dem Pfarrer Montandon, der dogmatisch ganz orthodox, in kirch¬
lichen Fragen jedoch tolerant und freisinnig ist. und einem der Aelresten.

Welches waren die Anklagen gegen A. Coquerel? In doppelter Hin-


sonders als gewandter, allzeit schlagfertiger Polemiker erwies, gab er das
Journal „Lien" heraus, das einen geistvollen Kampf gegen die Orthodoxie
führte und heute noch das angesehenste Organ des liberalen Protestantismus
ist. Dabei fand er noch Zeit für eine ausgebreitete literarische Thätig¬
keit. Von seinen ästhetischen Studien legten seine Briefe über die schönen
Künste in Italien vom Standpunkte des religiösen Lebens (1857), von sei¬
nen geschichtlichen Forschungen der erste Band einer Geschichte der reformir-
ten Kirche von Paris (1862), eine Lebensbeschreibung von I. Calas und sei¬
ner Familie und einige kleine Monographien Zeugniß ab. Der Kaiser hatte
ihn, den Hilfsgeistlichen, mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet, was
seinen Collegen gleichfalls ein Dorn im Auge war. Kurz, man darf es
sagen, und es ist in öffentlicher Versammlung ausgesprochen worden: es war
der Neid, der die Opposition gegen ihn schärfte und zum Hasse steigerte.

Aber es kam darauf an, greifbarere Gründe aufzufinden, um das Vor¬
gehen gegen ihn zu beschönigen, es galt, eine passende Zeit und Gelegenheit
abzuwarten. Diese schienen gekommen, als das Leben Jesu von Renan ver¬
öffentlicht wurde und dessen unglaubliche Popularität die Orthodoxie beider
Lager erschütterte. Die Katholiken halfen sich durch Hirtenbriefe, Pamphlete,
durch den Index. Den Reformirten stand kein Index, zu Gebot, aber sie
zögerten nicht, jetzt eine Maßregel durchzusetzen, zu der sie schon längst ent¬
schlossen waren. Viermal war von drei zu drei Jahren die Suffraganstelle
A. Coquerels ohne Widerspruch erneuert worden; 1861 wurde sie ihm. dem
bereits Verdächtigen, nur auf zwei Jahre erneuert; im November 1863 schlug
Martin-Paschoud abermals vor, die Suffraganstelle, und zwar diesmal defini¬
tiv, seinem bisherigen Hilfsgeistlichen zu übertragen.

Der Presbyterialrath übergab die Sache einer Commission von drei
Geistlichen und vier Aeltesten, welche einen der einseitigsten Fanatiker,
Mettetal, Divisionschef auf der Polizeipräsectur, zu ihrem Berichterstatter
wählte. Der Bericht, der in der Sitzung vom S. Februar 1864 verlesen
wurde, enthielt, ohne zu einem Schluß zu kommen, eine Reihe von Be¬
schwerden gegen Coquerel. Die Debatte wurde auf die Sitzung vom 19. Fe¬
bruar vertagt, in welcher Coquerel selbst erschien, sich mit Würde gegen die
Anschuldigungen vertheidigte und sich offen zu den angezogenen Stellen be¬
kannte, die man gegen ihn zusammengelesen hatte. Die Entscheidung selbst
wurde in der Sitzung vom 26- Februar gefällt. Mit 12 Stimmen gegen 3
wurde der Antrag Martin-Paschouds verworfen und somit die Nichtbestäti-
gung Coquerels ausgesprochen. Die drei Stimmen gehörten Coquerel dem
Vater, dem Pfarrer Montandon, der dogmatisch ganz orthodox, in kirch¬
lichen Fragen jedoch tolerant und freisinnig ist. und einem der Aelresten.

Welches waren die Anklagen gegen A. Coquerel? In doppelter Hin-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/94>, abgerufen am 29.09.2024.