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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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walt zu behaupten, an deren Besitz sie sich gewöhnt hatten. Der Kampf
gegen die Orthodoxie war hier also zugleich der Kampf gegen eine wohl¬
befestigte Hierarchie.

Dieses Verhältniß erschwerte den Kampf und machte erklärlich, warum
auch das Decret von 1862, das die allgemeinen Wahlen einführte, nur
langsam seine Wirkungen äußerte. Dazu kommt, daß die ersten Wahlen in
eine Zeit der allgemeinen Reaction fielen. Wie das politische Stimmrecht
nur die Folge hatte, eine ergebene Mehrheit in den gesetzgebenden Körper
zu senden, so bewährte sich auch das Stimmrecht, das den Protestanten ein¬
geräumt wurde, in dieser Zeit als eine Stütze des Conservatismus. In
Paris wurden einfach die seitherigen Mitglieder des Presbyterialraths ge¬
wählt, das allgemeine Stimmrecht bestätigte sie, und ebenso fielen die fol¬
genden Wahlen zu Gunsten des Presbyterialraths aus. Doch ließ sich ein
stetiges, wenn auch langsames Anwachsen der Opposition, eine stetige Ab¬
nahme der Mehrheit bemerken. Wie sich im politischen Leben der öffentliche
Geist langsam wieder aufrichtete, so bildeten jene Wahlen einen Gradmesser
für die Erweckung des Geistes der Initiative und des Fortschritts innerhalb
der protestantischen Kirche. Der gleichzeitige Aufschwung der theologischen
Wissenschaft förderte mächtig, und außerhalb Paris hatte die liberale Mei¬
nung allmälig immer mehr Erfolge aufzuweisen.

Für die Liberalen in der Hauptstadt lag darin ein mächtiger Antrieb,
ihrem Presbyterialrath. der sich nicht ungern eine Autorität über die ganze re-
formirte Kirche angemaßt hätte, energischer auf den Leib zu rücken. Im
Jahre 1860 wurde die Union Protestakts Moral" gegründet, eine Vereini¬
gung, deren Zweck war, "die religiöse Bewegung unter den Protestanten in
Frankreich zu unterstützen, die fortschreitende Entwickelung der christlichen
Wahrheit zu fördern, und die freie Glaubensäußerung im Schooß der natio¬
nalen Kirche zu sichern." In ihrer Ankündigung berief sich die Union auf
das reformatorische Princip, daß der Glaube vor Allem frei und persönlich
sein müsse, daß Jeder das Recht habe, im Gewissen und in d?r Bibel zu
suchen, was er glauben solle, daß das Wesen der Religion nicht in diesen
oder jenen Lehrmeinungen, sondern in Gefühl und Leben bestehe. Ein Ver¬
ein also denkender Protestanten sei die Union, aber sie sei bereit, auch mit
denen sich zu verbinden, welche anders denken, vorausgesetzt, daß sie im
Princip und in den Folgen die Toleranz für verschiedene Lehimeinungen auf
dem gemeinsamen Boden der Freiheit, des Gewissens und der christlichen
Liebe zulassen. In diesem Sinne wollten sie durch Publicationen, durch die
Zeitschrift "!e Protestant liberal" und durch einen jährlichen Almanach wirken.
Die Union hatte ihren Sitz zu Paris, wo ein Ausschuß von 18 Laien die
Geschäfte leitete.


walt zu behaupten, an deren Besitz sie sich gewöhnt hatten. Der Kampf
gegen die Orthodoxie war hier also zugleich der Kampf gegen eine wohl¬
befestigte Hierarchie.

Dieses Verhältniß erschwerte den Kampf und machte erklärlich, warum
auch das Decret von 1862, das die allgemeinen Wahlen einführte, nur
langsam seine Wirkungen äußerte. Dazu kommt, daß die ersten Wahlen in
eine Zeit der allgemeinen Reaction fielen. Wie das politische Stimmrecht
nur die Folge hatte, eine ergebene Mehrheit in den gesetzgebenden Körper
zu senden, so bewährte sich auch das Stimmrecht, das den Protestanten ein¬
geräumt wurde, in dieser Zeit als eine Stütze des Conservatismus. In
Paris wurden einfach die seitherigen Mitglieder des Presbyterialraths ge¬
wählt, das allgemeine Stimmrecht bestätigte sie, und ebenso fielen die fol¬
genden Wahlen zu Gunsten des Presbyterialraths aus. Doch ließ sich ein
stetiges, wenn auch langsames Anwachsen der Opposition, eine stetige Ab¬
nahme der Mehrheit bemerken. Wie sich im politischen Leben der öffentliche
Geist langsam wieder aufrichtete, so bildeten jene Wahlen einen Gradmesser
für die Erweckung des Geistes der Initiative und des Fortschritts innerhalb
der protestantischen Kirche. Der gleichzeitige Aufschwung der theologischen
Wissenschaft förderte mächtig, und außerhalb Paris hatte die liberale Mei¬
nung allmälig immer mehr Erfolge aufzuweisen.

Für die Liberalen in der Hauptstadt lag darin ein mächtiger Antrieb,
ihrem Presbyterialrath. der sich nicht ungern eine Autorität über die ganze re-
formirte Kirche angemaßt hätte, energischer auf den Leib zu rücken. Im
Jahre 1860 wurde die Union Protestakts Moral« gegründet, eine Vereini¬
gung, deren Zweck war, „die religiöse Bewegung unter den Protestanten in
Frankreich zu unterstützen, die fortschreitende Entwickelung der christlichen
Wahrheit zu fördern, und die freie Glaubensäußerung im Schooß der natio¬
nalen Kirche zu sichern." In ihrer Ankündigung berief sich die Union auf
das reformatorische Princip, daß der Glaube vor Allem frei und persönlich
sein müsse, daß Jeder das Recht habe, im Gewissen und in d?r Bibel zu
suchen, was er glauben solle, daß das Wesen der Religion nicht in diesen
oder jenen Lehrmeinungen, sondern in Gefühl und Leben bestehe. Ein Ver¬
ein also denkender Protestanten sei die Union, aber sie sei bereit, auch mit
denen sich zu verbinden, welche anders denken, vorausgesetzt, daß sie im
Princip und in den Folgen die Toleranz für verschiedene Lehimeinungen auf
dem gemeinsamen Boden der Freiheit, des Gewissens und der christlichen
Liebe zulassen. In diesem Sinne wollten sie durch Publicationen, durch die
Zeitschrift „!e Protestant liberal" und durch einen jährlichen Almanach wirken.
Die Union hatte ihren Sitz zu Paris, wo ein Ausschuß von 18 Laien die
Geschäfte leitete.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/92>, abgerufen am 05.02.2025.