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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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In Spanien, wo die durch den karlistischen Einfall beunruhigten Nord¬
provinzen noch immer nicht ganz pacificirt zu sein scheinen, dauert das In¬
terregnum fort, ohne daß der König ausfindig gemacht werden kann, der
die Entscheidung für die Monarchie zur Wahrheit machte. Während die neu
in Vorschlag gebrachte Kandidatur des Herzogs von Genua hier unterstützt,
dort angefochten wird, befestigt sich der Einfluß der republikanischen Partei
unaufhaltsam, werden die Aussichten für die Behauptung Cubas täglich un¬
günstiger und tritt die nordamerikanische Union mit ihren Absichten aus dieses
reiche Eiland immer deutlicher hervor.

In Deutschland ist der September schon seit geraumer Zeit der Monat
der wissenschaftlichen Congresse und diese sind -- soweit es sich nicht um
Berichte über die Manoeuver in Pommern und Ostpreußen handelte -- die
Hauptgegenstände aller Zeitungsnachrichten der letzten Wochen gewesen.
Allen Nachfragen und Provocationen zum Trotz haben die Berliner Offiziösen
über die Vorlagen zum bevorstehenden preußischen Landtage ein so gründ¬
liches Schweigen beobachtet, daß Presse und Publikum ausschließlich auf ihre
eigenen Gedanken über dieselben angewiesen geblieben sind, und selbst Ge¬
rüchte wie das von der bevorstehenden Einbringung eines Ministerverant-
wortlichkeits-Gesetzes auftauchen konnten. In Sachen des hessischen Kirchen¬
streites, der einen Augenblick die Proportionen einer brennenden Frage an¬
nehmen zu wollen schien, ist es inzwischen wieder ruhig geworden. Das
Organ der Berliner Fortschrittspartei, welches auch in dieser Angelegenheit
gegen die Regierung Front zu machen für Pflicht hielt, hat für seine Thätig¬
keit andere bequemere Spielplätze gefunden: an der Seite des von Parrisius
herausgegebenen "Volksfreundes" hat die "Volkszeitung" den Versuch gemacht/
den volkswirtschaftlichen Congreß um das verdiente Ansehen zu bringen und
im Bunde mit der "Zukunft" agitirt dasselbe Blatt dafür, des würdigen Waldeck
erledigten Platz im Abgeordnetenhause mit einem der Führer der Jacoby'schen
Zukunftspartei, dem Hauptmann a. D. von der Leeden, zu besetzen. Nach¬
dem man sich über die demokratische Rechtgläubigkeit des Candidaten geeinigt
hat, streiten die Herren darüber, ob "Verweigerung des Budgets" der alleinige
Inhalt eines politischen Programms sein könne oder nur die Bedeutung
eines zu Zeiten zweckmäßigen Mittels habe! Was das Organ der Fort-
schrittspartei sich bei einem Compromiß mit Politikern denkt, die im vorigen
Jahre den Friedenscongreß beschickten und an der Proclamation der "Ver¬
einigten Staaten von Europa" Theil nahmen, werden auch viele Freunde
dieses Berliner Journals nicht begreifen können: das Bekenntniß zur "reinen
Doctrin" hat nachgerade auf allen Seiten an Wirkung und Bedeutung ein¬
gebüßt und ist im vorliegenden Fall mit einer Schwenkung gleichbedeutend,
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In Spanien, wo die durch den karlistischen Einfall beunruhigten Nord¬
provinzen noch immer nicht ganz pacificirt zu sein scheinen, dauert das In¬
terregnum fort, ohne daß der König ausfindig gemacht werden kann, der
die Entscheidung für die Monarchie zur Wahrheit machte. Während die neu
in Vorschlag gebrachte Kandidatur des Herzogs von Genua hier unterstützt,
dort angefochten wird, befestigt sich der Einfluß der republikanischen Partei
unaufhaltsam, werden die Aussichten für die Behauptung Cubas täglich un¬
günstiger und tritt die nordamerikanische Union mit ihren Absichten aus dieses
reiche Eiland immer deutlicher hervor.

In Deutschland ist der September schon seit geraumer Zeit der Monat
der wissenschaftlichen Congresse und diese sind — soweit es sich nicht um
Berichte über die Manoeuver in Pommern und Ostpreußen handelte — die
Hauptgegenstände aller Zeitungsnachrichten der letzten Wochen gewesen.
Allen Nachfragen und Provocationen zum Trotz haben die Berliner Offiziösen
über die Vorlagen zum bevorstehenden preußischen Landtage ein so gründ¬
liches Schweigen beobachtet, daß Presse und Publikum ausschließlich auf ihre
eigenen Gedanken über dieselben angewiesen geblieben sind, und selbst Ge¬
rüchte wie das von der bevorstehenden Einbringung eines Ministerverant-
wortlichkeits-Gesetzes auftauchen konnten. In Sachen des hessischen Kirchen¬
streites, der einen Augenblick die Proportionen einer brennenden Frage an¬
nehmen zu wollen schien, ist es inzwischen wieder ruhig geworden. Das
Organ der Berliner Fortschrittspartei, welches auch in dieser Angelegenheit
gegen die Regierung Front zu machen für Pflicht hielt, hat für seine Thätig¬
keit andere bequemere Spielplätze gefunden: an der Seite des von Parrisius
herausgegebenen „Volksfreundes" hat die „Volkszeitung" den Versuch gemacht/
den volkswirtschaftlichen Congreß um das verdiente Ansehen zu bringen und
im Bunde mit der „Zukunft" agitirt dasselbe Blatt dafür, des würdigen Waldeck
erledigten Platz im Abgeordnetenhause mit einem der Führer der Jacoby'schen
Zukunftspartei, dem Hauptmann a. D. von der Leeden, zu besetzen. Nach¬
dem man sich über die demokratische Rechtgläubigkeit des Candidaten geeinigt
hat, streiten die Herren darüber, ob „Verweigerung des Budgets" der alleinige
Inhalt eines politischen Programms sein könne oder nur die Bedeutung
eines zu Zeiten zweckmäßigen Mittels habe! Was das Organ der Fort-
schrittspartei sich bei einem Compromiß mit Politikern denkt, die im vorigen
Jahre den Friedenscongreß beschickten und an der Proclamation der „Ver¬
einigten Staaten von Europa" Theil nahmen, werden auch viele Freunde
dieses Berliner Journals nicht begreifen können: das Bekenntniß zur „reinen
Doctrin" hat nachgerade auf allen Seiten an Wirkung und Bedeutung ein¬
gebüßt und ist im vorliegenden Fall mit einer Schwenkung gleichbedeutend,
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[0523] In Spanien, wo die durch den karlistischen Einfall beunruhigten Nord¬ provinzen noch immer nicht ganz pacificirt zu sein scheinen, dauert das In¬ terregnum fort, ohne daß der König ausfindig gemacht werden kann, der die Entscheidung für die Monarchie zur Wahrheit machte. Während die neu in Vorschlag gebrachte Kandidatur des Herzogs von Genua hier unterstützt, dort angefochten wird, befestigt sich der Einfluß der republikanischen Partei unaufhaltsam, werden die Aussichten für die Behauptung Cubas täglich un¬ günstiger und tritt die nordamerikanische Union mit ihren Absichten aus dieses reiche Eiland immer deutlicher hervor. In Deutschland ist der September schon seit geraumer Zeit der Monat der wissenschaftlichen Congresse und diese sind — soweit es sich nicht um Berichte über die Manoeuver in Pommern und Ostpreußen handelte — die Hauptgegenstände aller Zeitungsnachrichten der letzten Wochen gewesen. Allen Nachfragen und Provocationen zum Trotz haben die Berliner Offiziösen über die Vorlagen zum bevorstehenden preußischen Landtage ein so gründ¬ liches Schweigen beobachtet, daß Presse und Publikum ausschließlich auf ihre eigenen Gedanken über dieselben angewiesen geblieben sind, und selbst Ge¬ rüchte wie das von der bevorstehenden Einbringung eines Ministerverant- wortlichkeits-Gesetzes auftauchen konnten. In Sachen des hessischen Kirchen¬ streites, der einen Augenblick die Proportionen einer brennenden Frage an¬ nehmen zu wollen schien, ist es inzwischen wieder ruhig geworden. Das Organ der Berliner Fortschrittspartei, welches auch in dieser Angelegenheit gegen die Regierung Front zu machen für Pflicht hielt, hat für seine Thätig¬ keit andere bequemere Spielplätze gefunden: an der Seite des von Parrisius herausgegebenen „Volksfreundes" hat die „Volkszeitung" den Versuch gemacht/ den volkswirtschaftlichen Congreß um das verdiente Ansehen zu bringen und im Bunde mit der „Zukunft" agitirt dasselbe Blatt dafür, des würdigen Waldeck erledigten Platz im Abgeordnetenhause mit einem der Führer der Jacoby'schen Zukunftspartei, dem Hauptmann a. D. von der Leeden, zu besetzen. Nach¬ dem man sich über die demokratische Rechtgläubigkeit des Candidaten geeinigt hat, streiten die Herren darüber, ob „Verweigerung des Budgets" der alleinige Inhalt eines politischen Programms sein könne oder nur die Bedeutung eines zu Zeiten zweckmäßigen Mittels habe! Was das Organ der Fort- schrittspartei sich bei einem Compromiß mit Politikern denkt, die im vorigen Jahre den Friedenscongreß beschickten und an der Proclamation der „Ver¬ einigten Staaten von Europa" Theil nahmen, werden auch viele Freunde dieses Berliner Journals nicht begreifen können: das Bekenntniß zur „reinen Doctrin" hat nachgerade auf allen Seiten an Wirkung und Bedeutung ein¬ gebüßt und ist im vorliegenden Fall mit einer Schwenkung gleichbedeutend, * 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/523>, abgerufen am 24.07.2024.