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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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die Presse vor der ersten Septemberwoche führte und welche seit derselben
üblich geworden. Der Zustand des Kaisers, die Beziehungen und Pläne der
Glieder der kaiserlichen Familie, die Eventualitäten, welche im Todesfall ein¬
treten würden, werden mit einem geflissentlicher Cynismus besprochen , der
sich vor jeder gouvernementalen Verfolgung sicher fühlt und die Tage des .
Sicherheitsgesetzes und der Proscription jeder freien Meinungsäußerung bis
auf die Spur vergessen hat. Ton und Gehalt der publicistischen Erörterung
haben sich so gründlich und so allgemein verändert, daß an eine vollständige
Wiederherstellung des alten Subordinationsverhältnisses seit den Erörterungen
über die Rathsamkeit eines neuen suktrag'ö uviversel nicht mehr zu denken ist,
die Regierung eine thatsächliche Erhöhung des Maaßes geduldeter Pre߬
freiheit als tiZ.it aeeomM hinnehmen und zum Uebrigen thun muß. -- Und
während die arti-gouvernementale Stimmung auf diese Weise die raschesten
und unerwartetesten Fortschritte gemacht hat, zum Theil schon in eine anti¬
dynastische umgeschlagen ist und den Zauber der Unnahbarkeit, der den restau-
rirten Napoleonismus zu umgeben schien, vollends zerstört hat, ist von der
Negierung nichts geschehen, um den veränderten Verhältnissen Rechnung zu
tragen oder ihnen entgegen zu treten. Von den Berathungen der General¬
räthe sind auf Betrieb der Minister alle Gegenstände von politischer Bedeu¬
tung ausgeschlossen geblieben und der Senat hat seine Abhängigkeit und
innere Leblosigkeit dadurch bekundet, daß er die die Staatsverfassrmg ab¬
ändernden Artikel genau in der von Rvuher empfohlenen Form angenommen,
die Bonjean'schen Amendements verworfen und die Rede des Prinzen Na¬
poleon desavouirt hat. Daß diese Symptome für die Unfähigkeit der zeit¬
weiligen Machthaber mit dem Zeitpunkt zusammentrafen, in welchem die ein¬
zige reale Grundlage des Kaisertums, die Person des Kaisers, zusammen¬
zubrechen drohte, hat die allgemeine Erregung, welche sich in den letzten
Augusttagen bereits gelegt hatte, auss Neue heraufbeschworen. In der
Hauptstadt bildet neben Erörterungen über die Zukunft der Dynastie das
leidenschaftliche Verlangen nach Einberufung des gesetzgebenden Körpers den
Hauptgegenstand der Allarmartikel der liberalen Presse. Daß die Regierung
diese peinliche Nothwendigkeit bis aufs Aeußerste hinausschieben will, ist er¬
klärlich genug, denn bevor die Räthe des Kaisers vor die Volksvertretung
treten, muß der Kaiser zu Entschließungen gekommen sein, die durch seinen
gegenwärtigen Körperzustand erschwert, wenn ' nicht ausgeschlossen sind.
Grade diese Rechnung auf die wirkliche Verlegenheit der Regierung ist es,
welche den Angriffen der Opposition ihre Lebendigkeit gibt und dem vom
Grafen Kiratay ausgegebenen Stichwort so zahlreiche Anhänger zuführt.
Auch in den Departements bekunden die Feinde und die liberalen Freunde
des Kaisertums eine ungewöhnliche Regsamkeit und Activität. Der thörichte


die Presse vor der ersten Septemberwoche führte und welche seit derselben
üblich geworden. Der Zustand des Kaisers, die Beziehungen und Pläne der
Glieder der kaiserlichen Familie, die Eventualitäten, welche im Todesfall ein¬
treten würden, werden mit einem geflissentlicher Cynismus besprochen , der
sich vor jeder gouvernementalen Verfolgung sicher fühlt und die Tage des .
Sicherheitsgesetzes und der Proscription jeder freien Meinungsäußerung bis
auf die Spur vergessen hat. Ton und Gehalt der publicistischen Erörterung
haben sich so gründlich und so allgemein verändert, daß an eine vollständige
Wiederherstellung des alten Subordinationsverhältnisses seit den Erörterungen
über die Rathsamkeit eines neuen suktrag'ö uviversel nicht mehr zu denken ist,
die Regierung eine thatsächliche Erhöhung des Maaßes geduldeter Pre߬
freiheit als tiZ.it aeeomM hinnehmen und zum Uebrigen thun muß. — Und
während die arti-gouvernementale Stimmung auf diese Weise die raschesten
und unerwartetesten Fortschritte gemacht hat, zum Theil schon in eine anti¬
dynastische umgeschlagen ist und den Zauber der Unnahbarkeit, der den restau-
rirten Napoleonismus zu umgeben schien, vollends zerstört hat, ist von der
Negierung nichts geschehen, um den veränderten Verhältnissen Rechnung zu
tragen oder ihnen entgegen zu treten. Von den Berathungen der General¬
räthe sind auf Betrieb der Minister alle Gegenstände von politischer Bedeu¬
tung ausgeschlossen geblieben und der Senat hat seine Abhängigkeit und
innere Leblosigkeit dadurch bekundet, daß er die die Staatsverfassrmg ab¬
ändernden Artikel genau in der von Rvuher empfohlenen Form angenommen,
die Bonjean'schen Amendements verworfen und die Rede des Prinzen Na¬
poleon desavouirt hat. Daß diese Symptome für die Unfähigkeit der zeit¬
weiligen Machthaber mit dem Zeitpunkt zusammentrafen, in welchem die ein¬
zige reale Grundlage des Kaisertums, die Person des Kaisers, zusammen¬
zubrechen drohte, hat die allgemeine Erregung, welche sich in den letzten
Augusttagen bereits gelegt hatte, auss Neue heraufbeschworen. In der
Hauptstadt bildet neben Erörterungen über die Zukunft der Dynastie das
leidenschaftliche Verlangen nach Einberufung des gesetzgebenden Körpers den
Hauptgegenstand der Allarmartikel der liberalen Presse. Daß die Regierung
diese peinliche Nothwendigkeit bis aufs Aeußerste hinausschieben will, ist er¬
klärlich genug, denn bevor die Räthe des Kaisers vor die Volksvertretung
treten, muß der Kaiser zu Entschließungen gekommen sein, die durch seinen
gegenwärtigen Körperzustand erschwert, wenn ' nicht ausgeschlossen sind.
Grade diese Rechnung auf die wirkliche Verlegenheit der Regierung ist es,
welche den Angriffen der Opposition ihre Lebendigkeit gibt und dem vom
Grafen Kiratay ausgegebenen Stichwort so zahlreiche Anhänger zuführt.
Auch in den Departements bekunden die Feinde und die liberalen Freunde
des Kaisertums eine ungewöhnliche Regsamkeit und Activität. Der thörichte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/516>, abgerufen am 23.07.2024.