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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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einzigen Mannes, an den die Franzosen noch glauben, dem Europa die
Fähigkeit zutraut, Herr der schwierigen Lage an der Seine zu bleiben. Und
um allen Zweifel daran auszuschließen, daß Napoleon III. in der That der
einzige kaiserliche Staatsmann Frankreichs sei, der nicht allen Credit verloren,
brach sofort nach der ersten Kunde von seiner Erkrankung eine Verwirrung,
ein allgemeines Angst- und Nothgeschrei aus, wie es am Tage nach dem
Tode des Kaisers nicht hätte schlimmer sein können und das sich allmälig
auf alle europäischen Börsen ausdehnte. Die ostensible Schuld an demselben
trug allerdings das Ungeschick der offiziellen Pariser Publicistik, deren be¬
ruhigende Nachrichten nicht nur bestimmt schienen, das Publikum mißtrauisch
und unruhig zu machen, sondern außerdem so formulirt waren, daß man
eigentlich erst durch sie erfuhr, wie krank der Kaiser gewesen. Darüber, daß
der eigentliche Grund tiefer liegt, daß das Kaiserthum geblieben ist, was es
gewesen, ein Compromiß egoistischer Sonderinteressen der verschiedensten Art,
-- darüber konnte man freilich nicht in Zweifel sein. Die nur mit dem
Glück des dritten Napoleon ihren Bund geschlossen, bereiteten sich zur Flucht
sobald dieses Glück zu wanken schien. Die Furcht davor, bei einer Cata-
strophe in Mitleidenschaft gezogen zu werden, das Bemühen, im äußersten
Falle zuerst aus dem Platze zu sein und sich die Volksgunst schon vorläufig
zu sichern -- diese Auswüchse niedrigen und pietätslosen Egoismus traten so
ungeschminkt und brutal hervor, daß man unwillkürlich an die Zeiten
erinnert wurde, in denen die Demoralisation der Stützen des zweiten Kaiser-
thums das Lieblingsthema mißgünstiger Feuilletons bildete. Im Schooß
der kaiserlichen Familie trat sofort der feindliche Gegensatz zwischen der Kaiserin
und dem Prinzen Napoleon zu Tage, mehr noch durch persönliche Motive,
wie durch principielle Discrepanzen genährt und mit jener formlosen Bruta¬
lität ausgefochten, welche neu emporgekommene Dynastien trotz allen Strebens
nach einer den alten Herrschergeschlechtern ebenbürtigen Haltung nicht so leicht
los werden zu können scheinen. Innerhalb der eigentlich gouvernementalen
Sphäre herrschte die vollständigste Ratlosigkeit. Rouher, der als Senats-
Präsident die Rolle des leitenden Ministers fortzuführen versucht, ist als Ver¬
treter des alten Systems doch nur ein Staatsmann von gestern und die
Glieder des gegenwärtigen Cabinets haben eigentlich nie eine Zeit gehabt.
Bei Hof als Vertreter des unbequemen neuen Systems verhaßt, von der
Opposition als bloße Uebergangsmänner kaum beachtet, unter sich gespalten
und verfeindet, üben die neuen Minister nach keiner Seite Autorität, war
während der Tage der Besorgniß von ihnen am wenigsten die Rede.

Zu einer Vorstellung von der ungeheuren Umwandlung, welche sich
während der verhängnißvollen letzten Wochen in den Gemüthern der
Franzosen vollzogen hat, genügt ein Vergleich zwischen der Sprache, welche


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einzigen Mannes, an den die Franzosen noch glauben, dem Europa die
Fähigkeit zutraut, Herr der schwierigen Lage an der Seine zu bleiben. Und
um allen Zweifel daran auszuschließen, daß Napoleon III. in der That der
einzige kaiserliche Staatsmann Frankreichs sei, der nicht allen Credit verloren,
brach sofort nach der ersten Kunde von seiner Erkrankung eine Verwirrung,
ein allgemeines Angst- und Nothgeschrei aus, wie es am Tage nach dem
Tode des Kaisers nicht hätte schlimmer sein können und das sich allmälig
auf alle europäischen Börsen ausdehnte. Die ostensible Schuld an demselben
trug allerdings das Ungeschick der offiziellen Pariser Publicistik, deren be¬
ruhigende Nachrichten nicht nur bestimmt schienen, das Publikum mißtrauisch
und unruhig zu machen, sondern außerdem so formulirt waren, daß man
eigentlich erst durch sie erfuhr, wie krank der Kaiser gewesen. Darüber, daß
der eigentliche Grund tiefer liegt, daß das Kaiserthum geblieben ist, was es
gewesen, ein Compromiß egoistischer Sonderinteressen der verschiedensten Art,
— darüber konnte man freilich nicht in Zweifel sein. Die nur mit dem
Glück des dritten Napoleon ihren Bund geschlossen, bereiteten sich zur Flucht
sobald dieses Glück zu wanken schien. Die Furcht davor, bei einer Cata-
strophe in Mitleidenschaft gezogen zu werden, das Bemühen, im äußersten
Falle zuerst aus dem Platze zu sein und sich die Volksgunst schon vorläufig
zu sichern — diese Auswüchse niedrigen und pietätslosen Egoismus traten so
ungeschminkt und brutal hervor, daß man unwillkürlich an die Zeiten
erinnert wurde, in denen die Demoralisation der Stützen des zweiten Kaiser-
thums das Lieblingsthema mißgünstiger Feuilletons bildete. Im Schooß
der kaiserlichen Familie trat sofort der feindliche Gegensatz zwischen der Kaiserin
und dem Prinzen Napoleon zu Tage, mehr noch durch persönliche Motive,
wie durch principielle Discrepanzen genährt und mit jener formlosen Bruta¬
lität ausgefochten, welche neu emporgekommene Dynastien trotz allen Strebens
nach einer den alten Herrschergeschlechtern ebenbürtigen Haltung nicht so leicht
los werden zu können scheinen. Innerhalb der eigentlich gouvernementalen
Sphäre herrschte die vollständigste Ratlosigkeit. Rouher, der als Senats-
Präsident die Rolle des leitenden Ministers fortzuführen versucht, ist als Ver¬
treter des alten Systems doch nur ein Staatsmann von gestern und die
Glieder des gegenwärtigen Cabinets haben eigentlich nie eine Zeit gehabt.
Bei Hof als Vertreter des unbequemen neuen Systems verhaßt, von der
Opposition als bloße Uebergangsmänner kaum beachtet, unter sich gespalten
und verfeindet, üben die neuen Minister nach keiner Seite Autorität, war
während der Tage der Besorgniß von ihnen am wenigsten die Rede.

Zu einer Vorstellung von der ungeheuren Umwandlung, welche sich
während der verhängnißvollen letzten Wochen in den Gemüthern der
Franzosen vollzogen hat, genügt ein Vergleich zwischen der Sprache, welche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/515>, abgerufen am 23.07.2024.