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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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erscheinende deutsche Times, die aber nicht irgend eines Herrn Schulze oder
Müller Einfälle ausspönne, sondern die Ideen und Tendenzen der liberalen
deutschen Nationalpartei auf die Tagesgeschichte anwendete, würde jenseit
unserer Grenzen einen reineren, richtigeren und vielfach vortheilhafteren
Begriff von der deutschen Politik hervorbringen helfen. In ihr würde z> B.
das Mittel gegeben sein, Ungarn und Schweden die Furcht vor einer zu¬
künftigen Verschwörung Deutschlands mit Rußland gegen die nationale
Unabhängigkeit der benachbarten kleineren Staaten zu benehmen.

Freilich, wenn die Verjüngung der Partei solche Wirkungen nach sich
ziehen sollte, müßte sie sich vor allem auch in Berlin fühlbar machen. Berlin
aber ist bisher kein besonders fruchtbarer Boden für politische Organisation
gewesen. Die Menschen denken und arbeiten dort nur parlamentarisch.
Ueber diese engere Sphäre hinaus hören sie wenigstens auf, Parteimitglieder
zu sein, sind sie nur noch Menschen. Wenn die letzte Sitzung einer Session
zu Ende ist, so mag Niemand mehr von öffentlichen Geschäften etwas hören,
sondern eilt, sich in Wald und Feld, an der See oder im Gebirge von den
erschöpfenden Mühen der Parlamentsarbeit zu erholen, jedem Gedanken
unzugänglich, der ins politische Leben zurücklenkt. Dies ist die natürliche,
und im Allgemeinen auch nicht abzustellende Folge der legislativen Ueber¬
häufung; aber eine gewisse Organisation würde wenigstens ihrem nachtheiligen
Einfluß auf die wichtigsten Interessen der Partei abwehren. Die Aufstellung
eines Geschäftsführers z. B. -- wie die englischen Parteien ihn haben, und
wie auch der deutsche Nationalverein, ihn hatte -- würde verhüten, daß die
Partei jedes Jahr einige Monate hindurch von der Oberfläche der Welt
verschwindet, während ihr gegenüber die Negierung doch beständig auf dem
Platze ist, und soviel Radien von dem Centrum nach der Pheripherie hin aus¬
sendet, als für Wahlzwecke, harmonisches Handeln bei Agitationsanläßen
u. tgi. nöthig sind.

Eine reorganisiere nationalliberale Partei Norddeutschlands würde die
Verbindung mit der demnächst ebenfalls organisirten liberalen Nationalpartei
des Südens leicht finden und erhalten. Die Initiative zu einem zweckmäßig
befundenen neuen Agitationsorgan für ganz Deutschland mag man augen¬
blicklich besser den Süddeutschen überlassen, die Initiative aber zu einem Be¬
nehmen der Führer unter einander sollte von Berlin ausgehen, denn dort
fließen die Erkenntnißquellen und die leitenden Gesichtspunkte der deutschen
Politik zusammen.

Aber wer in Berlin wird die Frage aufnehmen, wer ist verpflichtet, sie
aufzunehmen, und wen vorab trifft die Verantwortlichkeit, wenn sie nicht
rechtzeitig oder nicht geschickt und erfolgreich aufgenommen wird? Die öffent¬
liche Meinung, so könnte man sagen, wälzt diesen ehrenvollen Beruf


erscheinende deutsche Times, die aber nicht irgend eines Herrn Schulze oder
Müller Einfälle ausspönne, sondern die Ideen und Tendenzen der liberalen
deutschen Nationalpartei auf die Tagesgeschichte anwendete, würde jenseit
unserer Grenzen einen reineren, richtigeren und vielfach vortheilhafteren
Begriff von der deutschen Politik hervorbringen helfen. In ihr würde z> B.
das Mittel gegeben sein, Ungarn und Schweden die Furcht vor einer zu¬
künftigen Verschwörung Deutschlands mit Rußland gegen die nationale
Unabhängigkeit der benachbarten kleineren Staaten zu benehmen.

Freilich, wenn die Verjüngung der Partei solche Wirkungen nach sich
ziehen sollte, müßte sie sich vor allem auch in Berlin fühlbar machen. Berlin
aber ist bisher kein besonders fruchtbarer Boden für politische Organisation
gewesen. Die Menschen denken und arbeiten dort nur parlamentarisch.
Ueber diese engere Sphäre hinaus hören sie wenigstens auf, Parteimitglieder
zu sein, sind sie nur noch Menschen. Wenn die letzte Sitzung einer Session
zu Ende ist, so mag Niemand mehr von öffentlichen Geschäften etwas hören,
sondern eilt, sich in Wald und Feld, an der See oder im Gebirge von den
erschöpfenden Mühen der Parlamentsarbeit zu erholen, jedem Gedanken
unzugänglich, der ins politische Leben zurücklenkt. Dies ist die natürliche,
und im Allgemeinen auch nicht abzustellende Folge der legislativen Ueber¬
häufung; aber eine gewisse Organisation würde wenigstens ihrem nachtheiligen
Einfluß auf die wichtigsten Interessen der Partei abwehren. Die Aufstellung
eines Geschäftsführers z. B. — wie die englischen Parteien ihn haben, und
wie auch der deutsche Nationalverein, ihn hatte — würde verhüten, daß die
Partei jedes Jahr einige Monate hindurch von der Oberfläche der Welt
verschwindet, während ihr gegenüber die Negierung doch beständig auf dem
Platze ist, und soviel Radien von dem Centrum nach der Pheripherie hin aus¬
sendet, als für Wahlzwecke, harmonisches Handeln bei Agitationsanläßen
u. tgi. nöthig sind.

Eine reorganisiere nationalliberale Partei Norddeutschlands würde die
Verbindung mit der demnächst ebenfalls organisirten liberalen Nationalpartei
des Südens leicht finden und erhalten. Die Initiative zu einem zweckmäßig
befundenen neuen Agitationsorgan für ganz Deutschland mag man augen¬
blicklich besser den Süddeutschen überlassen, die Initiative aber zu einem Be¬
nehmen der Führer unter einander sollte von Berlin ausgehen, denn dort
fließen die Erkenntnißquellen und die leitenden Gesichtspunkte der deutschen
Politik zusammen.

Aber wer in Berlin wird die Frage aufnehmen, wer ist verpflichtet, sie
aufzunehmen, und wen vorab trifft die Verantwortlichkeit, wenn sie nicht
rechtzeitig oder nicht geschickt und erfolgreich aufgenommen wird? Die öffent¬
liche Meinung, so könnte man sagen, wälzt diesen ehrenvollen Beruf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/480>, abgerufen am 22.07.2024.