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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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er geringer an und berücksichtigt zu wenig, daß man über die Leistungs¬
fähigkeit der vom Staate nicht gegängelten Gesellschaft so lange keine echten
Proben haben wird, als man ihr das Gängelband nicht einmal gänzlich abge¬
nommen. So ausschließlich bewegt sich die schöpferische Phantasie dieses begabten
und thätigen Staatsdenkers in den Formen sogenannter Selbstverwaltung, daß
er auch öffentliches Pflichtgefühl nur bei den Funktionären von Staat, Kreis
oder Gemeinde voraussetzt, aber anscheinend keines bei den zahlreichen Leuten,
welche sogar heute schon dem Gemeinwohl, dem Vaterlande und der Mensch¬
heit leben, ohne durch irgend ein Anstellungspatent dazu verpflichtet und
durch eine jährliche Summe Geldes dafür belohnt zu sein. Die freie Armen¬
pflege, behauptet er mit der größten Zuversicht, könne sogar den rechten Geist
für die Ausübung ihres Berufs nur von der öffentlichen Zwangsarmenpflege
entlehnen. Wogegen denn allerdings Stadtrath Rickert aus Danzig erklärte,
ihn habe siebenjährige praktische Beschäftigung mit der Communalarmenpflege
vom Gegentheil und von der Nothwendigkeit des Uebergangs zu freier
Armenpflege überzeugt.

Mit der Gegenüberstellung dieser unversöhnlichen Grundansichten wird
das Interesse für den Gegenstand des Streites hinlänglich geweckt sein. Der
Congreß hat natürlich keinen Beschluß fassen wollen, da es ja nicht darauf
ankommen konnte, zu erfahren, ob eine zufällige Mehrheit sich für Böhmert
oder für Gneist aussprechen werde; aber er hat die Frage auch nicht etwa
von seiner Tagesordnung abgesetzt, sondern einem Ausschuß zu weiterer
Durcharbeitung und Vorbereitung sür die nächste Versammlung überwiesen.
Mehr Hoffnung, als auf diesen örtlich weitgetrennten und in sich uneinigen
Ausschuß, gründen wir auf die so nachdrücklich angeregte weitere Behandlung
der Sache in Gemeindeeollegien, auf engeren volkswirthschaftlichen Versamm¬
lungen und in der Presse. Zu ihr wird das Sammelwerk über europäische
Armenpflege, welches Professor Emminghaus veranstaltet hat, und welches
eben jetzt erscheint, ein reiches Material hergeben.

Das Actiengesellschaftsrecht war ein Gegenstand der Tagesordnung,
welche der volkswirthschaftliche Congreß mit dem in Heidelberg kurz vorher
versammelt gewesenen Juristentage theilte. Aber kritischer als dieser gestimmt,
begnügte er sich nicht, die Aufhebung der Concessionspflicht für Aktiengesell¬
schaften zu fordern. In der Verhandlung wenigstens, wenn auch nicht in
dem Beschluß, wurden allerhand Einschränkungen in dem Gebrauch dieser
Gesellschaftsform empfohlen, von denen der Gesetzgeber demnächst Nutzen
ziehen mag. Dabei nahmen Becker (Dortmund) und Faucher sich mehr des
außenstehenden Publicums, L. Bamberger der Actionäre gegen selbstsüchtig¬
eigenmächtige Directoren und Verwaltungsräthe an, indem der Letztere das
größte Unheil in der Verwirthschaftung des Actiencapitals erblickte, die


er geringer an und berücksichtigt zu wenig, daß man über die Leistungs¬
fähigkeit der vom Staate nicht gegängelten Gesellschaft so lange keine echten
Proben haben wird, als man ihr das Gängelband nicht einmal gänzlich abge¬
nommen. So ausschließlich bewegt sich die schöpferische Phantasie dieses begabten
und thätigen Staatsdenkers in den Formen sogenannter Selbstverwaltung, daß
er auch öffentliches Pflichtgefühl nur bei den Funktionären von Staat, Kreis
oder Gemeinde voraussetzt, aber anscheinend keines bei den zahlreichen Leuten,
welche sogar heute schon dem Gemeinwohl, dem Vaterlande und der Mensch¬
heit leben, ohne durch irgend ein Anstellungspatent dazu verpflichtet und
durch eine jährliche Summe Geldes dafür belohnt zu sein. Die freie Armen¬
pflege, behauptet er mit der größten Zuversicht, könne sogar den rechten Geist
für die Ausübung ihres Berufs nur von der öffentlichen Zwangsarmenpflege
entlehnen. Wogegen denn allerdings Stadtrath Rickert aus Danzig erklärte,
ihn habe siebenjährige praktische Beschäftigung mit der Communalarmenpflege
vom Gegentheil und von der Nothwendigkeit des Uebergangs zu freier
Armenpflege überzeugt.

Mit der Gegenüberstellung dieser unversöhnlichen Grundansichten wird
das Interesse für den Gegenstand des Streites hinlänglich geweckt sein. Der
Congreß hat natürlich keinen Beschluß fassen wollen, da es ja nicht darauf
ankommen konnte, zu erfahren, ob eine zufällige Mehrheit sich für Böhmert
oder für Gneist aussprechen werde; aber er hat die Frage auch nicht etwa
von seiner Tagesordnung abgesetzt, sondern einem Ausschuß zu weiterer
Durcharbeitung und Vorbereitung sür die nächste Versammlung überwiesen.
Mehr Hoffnung, als auf diesen örtlich weitgetrennten und in sich uneinigen
Ausschuß, gründen wir auf die so nachdrücklich angeregte weitere Behandlung
der Sache in Gemeindeeollegien, auf engeren volkswirthschaftlichen Versamm¬
lungen und in der Presse. Zu ihr wird das Sammelwerk über europäische
Armenpflege, welches Professor Emminghaus veranstaltet hat, und welches
eben jetzt erscheint, ein reiches Material hergeben.

Das Actiengesellschaftsrecht war ein Gegenstand der Tagesordnung,
welche der volkswirthschaftliche Congreß mit dem in Heidelberg kurz vorher
versammelt gewesenen Juristentage theilte. Aber kritischer als dieser gestimmt,
begnügte er sich nicht, die Aufhebung der Concessionspflicht für Aktiengesell¬
schaften zu fordern. In der Verhandlung wenigstens, wenn auch nicht in
dem Beschluß, wurden allerhand Einschränkungen in dem Gebrauch dieser
Gesellschaftsform empfohlen, von denen der Gesetzgeber demnächst Nutzen
ziehen mag. Dabei nahmen Becker (Dortmund) und Faucher sich mehr des
außenstehenden Publicums, L. Bamberger der Actionäre gegen selbstsüchtig¬
eigenmächtige Directoren und Verwaltungsräthe an, indem der Letztere das
größte Unheil in der Verwirthschaftung des Actiencapitals erblickte, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/474>, abgerufen am 25.08.2024.