Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.Auch dem Laien fällt bei jener Eidesformel sogleich auf, daß das Vorhandensein Auch dem Laien fällt bei jener Eidesformel sogleich auf, daß das Vorhandensein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0047" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121268"/> <p xml:id="ID_156" next="#ID_157"> Auch dem Laien fällt bei jener Eidesformel sogleich auf, daß das Vorhandensein<lb/> einer „in sächsischen Landen angenommenen reinen Lehre" vorausgesetzt wird, von welcher<lb/> dann gesagt ist, daß sie in der H. Schrift und Bekenntnissen enthalten sei. Was heißt<lb/> „angenommen"? Es kann wohl eben nichts Anderes bedeuten als „anbefohlen", und<lb/> dies wieder heißt: „durch den Religionseid aufgenöthigt." Eben dieser Religionseid müßte<lb/> also erst angeben, welches jene reine Lehre sei. Aber statt dessen nennt er mit seinem<lb/> „wie solche" nur die Quellen, wo diese Lehre zu finden ist, und man kann deshalb<lb/> nicht umhin zu glauben, daß der Eid den gesammten Inhalt der h. Schrift<lb/> , Alten und Neuen Testaments, den gesammten Inhalt sämmtlicher in Sachsen<lb/> giltiger symbolischer Bücher (es sind dies mehr, als in andern lutherischen Ländern,<lb/> ja man weiß nicht einmal sicher, was alles dazu gehört: vgl. S. 158 ff.), gleich¬<lb/> mäßig für den Ausdruck jener reinen Lehre gehalten wissen wolle. Denn bedeu¬<lb/> tete etwa jenes „wie solche" nur „soweit als sie" (yuatenus), — dann könnte<lb/> Jeder aus den genannten Büchern sich etwas Beliebiges aussuchen und es für die<lb/> „reine Lehre" erklären. Und in'jenem strengen buchstäblichen Sinne ist der Eid<lb/> auch historisch entstanden, wie uns Dr. Krenkel genau nachweist. Außer dem hier<lb/> von uns hervorgehobenen Fehler deckt aber der Verf. mit einem fast ergötzlich wir¬<lb/> kenden Scharfsinn noch so viele Widersprüche und Zweideutigkeiten jener Formulare<lb/> auf, namentlich im Verhältnisse des Hauptsatzes zu weiteren Zusatzbestimmungen,<lb/> daß es auf keine Weise möglich sein dürfte, diese sächsische Eigenthümlichkeit zu<lb/> retten. Und doch ist sie erst im I. 1862 ausdrücklich — mit Veränderungen, die<lb/> nur zum geringen Theil Verbesserungen waren — erneuert worden! — Auch Prof.<lb/> Fricke wollte sie eigentlich nicht retten. Er hatte unsern Verf. vielmehr dahin be-<lb/> schieden, daß der Eid bestehen bleiben könne, weil „Jedermann wisse, daß derselbe<lb/> nur auf die Substanz oder auf den Geist der Bekenntnisse abgelegt werde".<lb/> Allerdings weist Krenkel nach (S. 65 ff.), daß selbst ein gefeierter hoch-lutherischer<lb/> Prediger (Dr. Ahlfeld in Leipzig) in mehreren nicht unwichtigen Puncten ohne es<lb/> zu wissen von den Bekenntnißschriften abgeht, und dasselbe ist in weit größerem<lb/> Maßstabe von den wissenschaftlichen Theologen Sachsens bekannt; aber eben so sicher<lb/> ist, daß der Wortlaut des Eides unsre studirende theologische Jugend leicht von<lb/> vornherein zu der Absicht treibt, auf die Uebereinstimmung mit den symbolischen<lb/> Büchern ooüts <mi eoüw loszustudiren, Andere aber, oft die Begabtesten und Ge¬<lb/> müthreichsten, erst ängstigt, dann dem theologischen Amte abwendet, und so ihre<lb/> Kräfte der Kirche raubt. Und eben so sicher ist es, wie dies Krenkel durch That¬<lb/> sachen bezeugen konnte, daß daS sächsische Kirchenrcgiment die Grenzlinie zwischen<lb/> der „Substanz" oder dem „Geiste" und allem Uebrigen entweder nach Bedürfniß<lb/> des einzelnen Falles beliebig zieht oder auch gänzlich tilgt: wie es denn mit<lb/> strengster Ablehnung verfuhr, als vor wenigen Jahren Dr. Sülze in Osnabrück,<lb/> um einem Rufe nach seinem Vaterlande Sachsen folgen zu können, nur das prote¬<lb/> stantische Recht freier Schriftauslegung forderte, mit dem Vorbehalf, dabei von den<lb/> Bekenntnißschristen abweichen zu dürfen. Auch Professor Ri eh in in Halle hat jenes<lb/> Eides wegen einen Ruf nach Leipzig ausgeschlagen. Warum sagte man in diesen<lb/> Fällen nicht, daß der Eid nur der „Substanz" gelte? Oder rechnete man so Vieles<lb/> zu dieser Substanz, daß der keineswegs auf der äußersten Linken stehende Hallesche<lb/> Theolog, der doch schon in Preußen verpflichtet worden, zuviel neue Verpflichtungen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0047]
Auch dem Laien fällt bei jener Eidesformel sogleich auf, daß das Vorhandensein
einer „in sächsischen Landen angenommenen reinen Lehre" vorausgesetzt wird, von welcher
dann gesagt ist, daß sie in der H. Schrift und Bekenntnissen enthalten sei. Was heißt
„angenommen"? Es kann wohl eben nichts Anderes bedeuten als „anbefohlen", und
dies wieder heißt: „durch den Religionseid aufgenöthigt." Eben dieser Religionseid müßte
also erst angeben, welches jene reine Lehre sei. Aber statt dessen nennt er mit seinem
„wie solche" nur die Quellen, wo diese Lehre zu finden ist, und man kann deshalb
nicht umhin zu glauben, daß der Eid den gesammten Inhalt der h. Schrift
, Alten und Neuen Testaments, den gesammten Inhalt sämmtlicher in Sachsen
giltiger symbolischer Bücher (es sind dies mehr, als in andern lutherischen Ländern,
ja man weiß nicht einmal sicher, was alles dazu gehört: vgl. S. 158 ff.), gleich¬
mäßig für den Ausdruck jener reinen Lehre gehalten wissen wolle. Denn bedeu¬
tete etwa jenes „wie solche" nur „soweit als sie" (yuatenus), — dann könnte
Jeder aus den genannten Büchern sich etwas Beliebiges aussuchen und es für die
„reine Lehre" erklären. Und in'jenem strengen buchstäblichen Sinne ist der Eid
auch historisch entstanden, wie uns Dr. Krenkel genau nachweist. Außer dem hier
von uns hervorgehobenen Fehler deckt aber der Verf. mit einem fast ergötzlich wir¬
kenden Scharfsinn noch so viele Widersprüche und Zweideutigkeiten jener Formulare
auf, namentlich im Verhältnisse des Hauptsatzes zu weiteren Zusatzbestimmungen,
daß es auf keine Weise möglich sein dürfte, diese sächsische Eigenthümlichkeit zu
retten. Und doch ist sie erst im I. 1862 ausdrücklich — mit Veränderungen, die
nur zum geringen Theil Verbesserungen waren — erneuert worden! — Auch Prof.
Fricke wollte sie eigentlich nicht retten. Er hatte unsern Verf. vielmehr dahin be-
schieden, daß der Eid bestehen bleiben könne, weil „Jedermann wisse, daß derselbe
nur auf die Substanz oder auf den Geist der Bekenntnisse abgelegt werde".
Allerdings weist Krenkel nach (S. 65 ff.), daß selbst ein gefeierter hoch-lutherischer
Prediger (Dr. Ahlfeld in Leipzig) in mehreren nicht unwichtigen Puncten ohne es
zu wissen von den Bekenntnißschriften abgeht, und dasselbe ist in weit größerem
Maßstabe von den wissenschaftlichen Theologen Sachsens bekannt; aber eben so sicher
ist, daß der Wortlaut des Eides unsre studirende theologische Jugend leicht von
vornherein zu der Absicht treibt, auf die Uebereinstimmung mit den symbolischen
Büchern ooüts <mi eoüw loszustudiren, Andere aber, oft die Begabtesten und Ge¬
müthreichsten, erst ängstigt, dann dem theologischen Amte abwendet, und so ihre
Kräfte der Kirche raubt. Und eben so sicher ist es, wie dies Krenkel durch That¬
sachen bezeugen konnte, daß daS sächsische Kirchenrcgiment die Grenzlinie zwischen
der „Substanz" oder dem „Geiste" und allem Uebrigen entweder nach Bedürfniß
des einzelnen Falles beliebig zieht oder auch gänzlich tilgt: wie es denn mit
strengster Ablehnung verfuhr, als vor wenigen Jahren Dr. Sülze in Osnabrück,
um einem Rufe nach seinem Vaterlande Sachsen folgen zu können, nur das prote¬
stantische Recht freier Schriftauslegung forderte, mit dem Vorbehalf, dabei von den
Bekenntnißschristen abweichen zu dürfen. Auch Professor Ri eh in in Halle hat jenes
Eides wegen einen Ruf nach Leipzig ausgeschlagen. Warum sagte man in diesen
Fällen nicht, daß der Eid nur der „Substanz" gelte? Oder rechnete man so Vieles
zu dieser Substanz, daß der keineswegs auf der äußersten Linken stehende Hallesche
Theolog, der doch schon in Preußen verpflichtet worden, zuviel neue Verpflichtungen
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