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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Zügellosigkeit, welche jetzt in Rom und Florenz ihre Orgien feierte, begann
allmälig auch an den Grundlagen des piemontesischen Staats zu rütteln.
Vor zwei Jahren noch beinahe ein Patrimonialstaat, eine Domäne von Adel,
Klerus und Heer, war er nahe daran, ein Spielball von Demagogen zweifel¬
haftester Sorte zu werden, deren Action in den Volksvereinen ein fortge¬
setzter Krieg gegen das Heer, den König und die Verfassung war. Auch hier
glitt die Herrschaft unvermeidlich in die Hände der Radicalen. Aber indem
am 16. December das Ministerium dem Führer der Opposition, dem Abbate
Vincenz Gioberti übergeben wurde, empfing dieser zugleich die Aufgabe, durch
das Einlenken in die neue Bahn den Staat zu retten. War feine Berufung
eine Genugthuung für die ungestüme demokratische Strömung, so sollte sie
zugleich ein Mittel sein, eben diese Strömung zu zügeln und eine Schutz¬
mauer für den Staat aufzurichten gegen die ansteckende Auflösungskrankheit,
welcher Mitrelitalien verfallen war, wie gegen die von außen heraufziehende
Reaction, die bereits deutlich sich ankündigte.

Es ließen sich der piemontesischen Staatskunst in den letzten Monaten
Schwankungen verschiedener Art vorwerfen. Dazu war der Staat doch zu
klein, als daß er seinen Egoismus rücksichtslos als den unverrückbar festen Punkt
im Wirbel der verschiedenartigen Interessen hätte hinstellen können. In den
Verhandlungen mit Oestreich, wie im Verhältnisse zu Frankreich, in der
Frage des subalpinischen Reichs, wie in der Bundesstaatsfrage waren nicht
immer dieselben Gesichtspunkte festgehalten worden. Erst unter Gioberti
wurde die feste Richtung der piemontesischen Wege wieder erkennbarer. Dies
klingt befremdend; denn Consequenz war im Grunde von ihm am wenigsten
zu erwarten. So bedeutend sein Name in der letzten Zeit hervorgetreten war,
so wenig vertrauenerweckend war er selbst. Es schien ein verzweifeltes Aus¬
kunftsmittel, gerade in dieser Zeit als ersten Minister einen Mann zu be¬
rufen, dessen ganze bisherige Laufbahn unstät, abenteuerlich, voll der auf¬
fallendsten Widersprüche und plötzlichsten Schwenkungen gewesen war. Im
Anfang ein extremer Republicaner, der mit Mazzini Hand in Hand ging
hatte er dann durch jenes epochemachende Werk überrascht, welches den Pri¬
mat des mittelalterlichen Papstthums im 19. Jahrhundert wieder aufrichten
wollte, gleichzeitig aber die Bildung einer gemäßigten Reformpartei einleitete
und damit eines der wichtigsten Fermente der Bewegung wurde. Im An¬
fang 1848 war er dann plötzlich zu einem leidenschaftlichen Vertheidiger des
piemontesischen Staats umgewandelt, er predigte auf seinem Triumphzuge
durch Italien die Mission Karl Alberts und verfocht gegen die Mazzinisten
die Annexionen von Venetien und der Lombardei, Parma und Moden", ja
von Sicilien. Der katholische Theoretiker von 1843 schien jetzt so sehr zum
Politiker geworden, daß, als Pius IX. von der nationalen Sache zurücktrat.


Zügellosigkeit, welche jetzt in Rom und Florenz ihre Orgien feierte, begann
allmälig auch an den Grundlagen des piemontesischen Staats zu rütteln.
Vor zwei Jahren noch beinahe ein Patrimonialstaat, eine Domäne von Adel,
Klerus und Heer, war er nahe daran, ein Spielball von Demagogen zweifel¬
haftester Sorte zu werden, deren Action in den Volksvereinen ein fortge¬
setzter Krieg gegen das Heer, den König und die Verfassung war. Auch hier
glitt die Herrschaft unvermeidlich in die Hände der Radicalen. Aber indem
am 16. December das Ministerium dem Führer der Opposition, dem Abbate
Vincenz Gioberti übergeben wurde, empfing dieser zugleich die Aufgabe, durch
das Einlenken in die neue Bahn den Staat zu retten. War feine Berufung
eine Genugthuung für die ungestüme demokratische Strömung, so sollte sie
zugleich ein Mittel sein, eben diese Strömung zu zügeln und eine Schutz¬
mauer für den Staat aufzurichten gegen die ansteckende Auflösungskrankheit,
welcher Mitrelitalien verfallen war, wie gegen die von außen heraufziehende
Reaction, die bereits deutlich sich ankündigte.

Es ließen sich der piemontesischen Staatskunst in den letzten Monaten
Schwankungen verschiedener Art vorwerfen. Dazu war der Staat doch zu
klein, als daß er seinen Egoismus rücksichtslos als den unverrückbar festen Punkt
im Wirbel der verschiedenartigen Interessen hätte hinstellen können. In den
Verhandlungen mit Oestreich, wie im Verhältnisse zu Frankreich, in der
Frage des subalpinischen Reichs, wie in der Bundesstaatsfrage waren nicht
immer dieselben Gesichtspunkte festgehalten worden. Erst unter Gioberti
wurde die feste Richtung der piemontesischen Wege wieder erkennbarer. Dies
klingt befremdend; denn Consequenz war im Grunde von ihm am wenigsten
zu erwarten. So bedeutend sein Name in der letzten Zeit hervorgetreten war,
so wenig vertrauenerweckend war er selbst. Es schien ein verzweifeltes Aus¬
kunftsmittel, gerade in dieser Zeit als ersten Minister einen Mann zu be¬
rufen, dessen ganze bisherige Laufbahn unstät, abenteuerlich, voll der auf¬
fallendsten Widersprüche und plötzlichsten Schwenkungen gewesen war. Im
Anfang ein extremer Republicaner, der mit Mazzini Hand in Hand ging
hatte er dann durch jenes epochemachende Werk überrascht, welches den Pri¬
mat des mittelalterlichen Papstthums im 19. Jahrhundert wieder aufrichten
wollte, gleichzeitig aber die Bildung einer gemäßigten Reformpartei einleitete
und damit eines der wichtigsten Fermente der Bewegung wurde. Im An¬
fang 1848 war er dann plötzlich zu einem leidenschaftlichen Vertheidiger des
piemontesischen Staats umgewandelt, er predigte auf seinem Triumphzuge
durch Italien die Mission Karl Alberts und verfocht gegen die Mazzinisten
die Annexionen von Venetien und der Lombardei, Parma und Moden«, ja
von Sicilien. Der katholische Theoretiker von 1843 schien jetzt so sehr zum
Politiker geworden, daß, als Pius IX. von der nationalen Sache zurücktrat.


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[0388] Zügellosigkeit, welche jetzt in Rom und Florenz ihre Orgien feierte, begann allmälig auch an den Grundlagen des piemontesischen Staats zu rütteln. Vor zwei Jahren noch beinahe ein Patrimonialstaat, eine Domäne von Adel, Klerus und Heer, war er nahe daran, ein Spielball von Demagogen zweifel¬ haftester Sorte zu werden, deren Action in den Volksvereinen ein fortge¬ setzter Krieg gegen das Heer, den König und die Verfassung war. Auch hier glitt die Herrschaft unvermeidlich in die Hände der Radicalen. Aber indem am 16. December das Ministerium dem Führer der Opposition, dem Abbate Vincenz Gioberti übergeben wurde, empfing dieser zugleich die Aufgabe, durch das Einlenken in die neue Bahn den Staat zu retten. War feine Berufung eine Genugthuung für die ungestüme demokratische Strömung, so sollte sie zugleich ein Mittel sein, eben diese Strömung zu zügeln und eine Schutz¬ mauer für den Staat aufzurichten gegen die ansteckende Auflösungskrankheit, welcher Mitrelitalien verfallen war, wie gegen die von außen heraufziehende Reaction, die bereits deutlich sich ankündigte. Es ließen sich der piemontesischen Staatskunst in den letzten Monaten Schwankungen verschiedener Art vorwerfen. Dazu war der Staat doch zu klein, als daß er seinen Egoismus rücksichtslos als den unverrückbar festen Punkt im Wirbel der verschiedenartigen Interessen hätte hinstellen können. In den Verhandlungen mit Oestreich, wie im Verhältnisse zu Frankreich, in der Frage des subalpinischen Reichs, wie in der Bundesstaatsfrage waren nicht immer dieselben Gesichtspunkte festgehalten worden. Erst unter Gioberti wurde die feste Richtung der piemontesischen Wege wieder erkennbarer. Dies klingt befremdend; denn Consequenz war im Grunde von ihm am wenigsten zu erwarten. So bedeutend sein Name in der letzten Zeit hervorgetreten war, so wenig vertrauenerweckend war er selbst. Es schien ein verzweifeltes Aus¬ kunftsmittel, gerade in dieser Zeit als ersten Minister einen Mann zu be¬ rufen, dessen ganze bisherige Laufbahn unstät, abenteuerlich, voll der auf¬ fallendsten Widersprüche und plötzlichsten Schwenkungen gewesen war. Im Anfang ein extremer Republicaner, der mit Mazzini Hand in Hand ging hatte er dann durch jenes epochemachende Werk überrascht, welches den Pri¬ mat des mittelalterlichen Papstthums im 19. Jahrhundert wieder aufrichten wollte, gleichzeitig aber die Bildung einer gemäßigten Reformpartei einleitete und damit eines der wichtigsten Fermente der Bewegung wurde. Im An¬ fang 1848 war er dann plötzlich zu einem leidenschaftlichen Vertheidiger des piemontesischen Staats umgewandelt, er predigte auf seinem Triumphzuge durch Italien die Mission Karl Alberts und verfocht gegen die Mazzinisten die Annexionen von Venetien und der Lombardei, Parma und Moden«, ja von Sicilien. Der katholische Theoretiker von 1843 schien jetzt so sehr zum Politiker geworden, daß, als Pius IX. von der nationalen Sache zurücktrat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/388>, abgerufen am 26.08.2024.