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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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das Volk, und wirklich halte das Eintreten in neue Bahnen die piemontesische
Staatskunst aus ihrem Gleichgewicht geworfen; unter dem Einfluß der ma߬
losen Hoffnungen und Ueberzeugungen der öffentlichen Meinung war sie
selbst in Gefahr, das feste Steuer zu verlieren, und erst in späteren Tagen,
unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution, erkannte man. daß jener
Widerstreit der Interessen Piemonts und Italiens nur ein täuschender Schein
gewesen war, daß, was ein politischer Gewinn für Piemont war. auch für
Italien Gewinn sein mußte, und daß die einzig richtige Politik nur darin be¬
stehen konnte, in jedem Moment das jetzt Erreichbare zu nehmen und das
Weitere der Zukunft zu überlassen.

Als im April 1848 Oestreich einen Waffenstillstand begehrte und Graf
Hartig beauftragt war, auf Grundlage der Räumung der Lombardei bis zum
Mincio Verhandlungen zu eröffnen, beschloß der Ministerrath in Turin ein¬
stimmig, alle Vorschläge zu verwerfen, welche nicht die gänzliche Befreiung
Italiens, also auch Venetiens von der östreichischen Herrschaft sicher stellten,
und der König billigte diesen Beschluß vollständig. Noch zu Ende Mai setzte
man in Turin den Vorstellungen Lord Palmerstons, auf das ganz vernünf¬
tige Hummelauersche Project einzugehen, hartnäckig die Forderung entgegen,
daß Oestreich ganz Italien räumen müsse. Oestreich versuchte nun, sich direct
an die provisorische Negierung von Mailand zu wenden, um die Sache der
Lombardei von der Venetiens zu trennen. Am 13. Juni wandte sich Wessen-
berg an den Grafen Casati in Mailand und theilte ihm mit, daß er ermäch¬
tigt sei, mit der provisorischen Regierung eine Verhandlung auf Grundlage
der Trennung der Lombardei von Oestreich zu eröffnen. Billige Bedingungen
waren dabei in Aussicht gestellt und die provisorische Regierung solle sich
selbst bei Karl Albert für den Abschluß eines Waffenstillstandes verwenden.
Allein auch Casati erwiderte am 18. Juni, daß die provisorische Regierung,
so lebhaft sie die Beilegung des Kriegs wünsche, doch nur auf Vorschläge
unterHändeln könne, welche die vollständige Unabhängigkeit Italiens enthiel¬
ten. Ueberdies sei die Mailänder Regierung, die bereits den Wunsch nach
Vereinigung mit Piemont kundgegeben, nicht in der Lage, zu verhandeln,
ohne die Mitwirkung des Turiner Cabinets nachzusuchen und zu erlangen.
Dieses war vertraulich in Kenntniß gesetzt worden und billigte vollkommen
die Haltung der lombardischen Regierung. Karl Albert aber war nicht zu
Rathe gezogen worden und beschwerte sich. als er nachher davon erfuhr.
Er mochte es jetzt, da Nugent seine Vereinigung mit Radetzky vollzogen
hatte, Vicenza verloren und der Werth der Volksbegeisterung bereits genug¬
sam erprobt war, für gerathen halten, wieder in die vorsichtigeren und be¬
scheideneren Bahnen seiner Hauspolitik zu lenken, zumal die Abneigung
Frankreichs gegen das subalpinische Reich immer deutlicher hervortrat und


das Volk, und wirklich halte das Eintreten in neue Bahnen die piemontesische
Staatskunst aus ihrem Gleichgewicht geworfen; unter dem Einfluß der ma߬
losen Hoffnungen und Ueberzeugungen der öffentlichen Meinung war sie
selbst in Gefahr, das feste Steuer zu verlieren, und erst in späteren Tagen,
unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution, erkannte man. daß jener
Widerstreit der Interessen Piemonts und Italiens nur ein täuschender Schein
gewesen war, daß, was ein politischer Gewinn für Piemont war. auch für
Italien Gewinn sein mußte, und daß die einzig richtige Politik nur darin be¬
stehen konnte, in jedem Moment das jetzt Erreichbare zu nehmen und das
Weitere der Zukunft zu überlassen.

Als im April 1848 Oestreich einen Waffenstillstand begehrte und Graf
Hartig beauftragt war, auf Grundlage der Räumung der Lombardei bis zum
Mincio Verhandlungen zu eröffnen, beschloß der Ministerrath in Turin ein¬
stimmig, alle Vorschläge zu verwerfen, welche nicht die gänzliche Befreiung
Italiens, also auch Venetiens von der östreichischen Herrschaft sicher stellten,
und der König billigte diesen Beschluß vollständig. Noch zu Ende Mai setzte
man in Turin den Vorstellungen Lord Palmerstons, auf das ganz vernünf¬
tige Hummelauersche Project einzugehen, hartnäckig die Forderung entgegen,
daß Oestreich ganz Italien räumen müsse. Oestreich versuchte nun, sich direct
an die provisorische Negierung von Mailand zu wenden, um die Sache der
Lombardei von der Venetiens zu trennen. Am 13. Juni wandte sich Wessen-
berg an den Grafen Casati in Mailand und theilte ihm mit, daß er ermäch¬
tigt sei, mit der provisorischen Regierung eine Verhandlung auf Grundlage
der Trennung der Lombardei von Oestreich zu eröffnen. Billige Bedingungen
waren dabei in Aussicht gestellt und die provisorische Regierung solle sich
selbst bei Karl Albert für den Abschluß eines Waffenstillstandes verwenden.
Allein auch Casati erwiderte am 18. Juni, daß die provisorische Regierung,
so lebhaft sie die Beilegung des Kriegs wünsche, doch nur auf Vorschläge
unterHändeln könne, welche die vollständige Unabhängigkeit Italiens enthiel¬
ten. Ueberdies sei die Mailänder Regierung, die bereits den Wunsch nach
Vereinigung mit Piemont kundgegeben, nicht in der Lage, zu verhandeln,
ohne die Mitwirkung des Turiner Cabinets nachzusuchen und zu erlangen.
Dieses war vertraulich in Kenntniß gesetzt worden und billigte vollkommen
die Haltung der lombardischen Regierung. Karl Albert aber war nicht zu
Rathe gezogen worden und beschwerte sich. als er nachher davon erfuhr.
Er mochte es jetzt, da Nugent seine Vereinigung mit Radetzky vollzogen
hatte, Vicenza verloren und der Werth der Volksbegeisterung bereits genug¬
sam erprobt war, für gerathen halten, wieder in die vorsichtigeren und be¬
scheideneren Bahnen seiner Hauspolitik zu lenken, zumal die Abneigung
Frankreichs gegen das subalpinische Reich immer deutlicher hervortrat und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/298>, abgerufen am 23.07.2024.