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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Ueber die Organisation der Rechtspflege enthält die neue Verfassung
nur sehr spärliche Bestimmungen in 6 Artikeln; "Verbrechen und politische
Vergehen, ebenso Preßprozesse, in welchen ein Beklagter es verlangt, werden
durch Geschwornengerichte beurtheilt. Durch das Gesetz können auch für an¬
dere Theile der Rechtspflege (Civil- und Strafrechtpflege) Geschwornengerichte
aufgestellt werden" (§. 37). "Das Proceßverfahren soll im Sinne möglichster
Rechtssicherheit so wie rascher und wohlfeiler Erledigung geordnet werden.
Für Streitigkeiten von geringem Betrag wird ein abgekürztes Verfahren ein¬
geführt" (ez. 69).

Unter den Volks- und staatswirthschaftlichen Grundsätzen
nimmt die Einführung der Progressivsteuer für Einkommen und Vermögen
eine hervorragende Stelle ein. "Der Staat erhebt eine Erbschaftssteuer pro¬
gressiv nach der Entfernung der Verwandtschaft und der Größe der Erb¬
schaft". "Es dürfen keine neuen Steuern auf den Consum unentbehrlicher
Lebensmittel eingeführt werden- Die Salzabgabe ist sofort zu vermindern."
"Die Stimmberechtigung verpflichtet zu einem mäßigen und auf alle gleich
zu legenden Beitrag an die öffentlichen Lasten." "Steuerprivilegien zu
Gunsten einzelner Privater oder Erwerbsgesellschaften sind unzulässig" (§. 19).
"Die Cantonal- und Bezirksbeamten, sowie die Notare erhalten Besoldungen
nach Maßgabe ihrer Geschäftslast. Die Gebühren und Sporteln fallen in
der Regel an die Staatskasse" (§. 20). "Die Ausübung jeder Berufsart in
Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe ist frei" (§. 21). Die Armen¬
pflege verbleibt den Gemeinden. Jedoch unterstützt der Staat diejenigen Ge¬
meinden, welche selbst bedürftig sind, zur Erleichterung ihrer Armenlasten. Er
fördert ferner die Entwickelung des auf Selbsthilfe beruhenden Genossenschafts¬
wesens und erläßt auf dem Wege der Gesetzgebung die zum Schutze der Ar¬
beiter nöthigen Bestimmungen". "Er errichtet zur Hebung des allgemeinen
Creditwesens beförderlich eine Cantonalbcmk" (Z. 22). "Die Unterstützung
des Staates erstreckt sich auf alle Straßentlassen mit Ausnahme der Neben¬
straßen". "Die Eisenbahnen, welche um ihrer volkswirthschaftlichen Bedeu¬
tung willen außerordentliche Privilegien seitens des Staates genießen, sind
unter dessen Aufsicht dieser Bestimmung entsprechend zu verwalten. Die¬
jenigen Gebietstheile des Cantons, welche in Hinsicht auf Bevölkerung und
Verkehr' mit denen auf gleichen Linien stehen, welche mit Staatshilfe zu
Eisenbahnen gelangt sind, haben ebenfalls Anspruch auf Staatsunterstützung"
(tztz. 25 u. 26). Endlich "übernimmt der Staat die erste militairische Aus¬
rüstung der Wehrpflichtigen" (§. 27).

Der Abschnitt über "Gesetzgebung und Volksvertretung" ent¬
hält diejenigen Bestimmungen, welche der züricherischen Verfassung am meisten
ihr eigenthümliches Gepräge (das der sogenannten reinen Demokratie) geben und


Ueber die Organisation der Rechtspflege enthält die neue Verfassung
nur sehr spärliche Bestimmungen in 6 Artikeln; „Verbrechen und politische
Vergehen, ebenso Preßprozesse, in welchen ein Beklagter es verlangt, werden
durch Geschwornengerichte beurtheilt. Durch das Gesetz können auch für an¬
dere Theile der Rechtspflege (Civil- und Strafrechtpflege) Geschwornengerichte
aufgestellt werden" (§. 37). „Das Proceßverfahren soll im Sinne möglichster
Rechtssicherheit so wie rascher und wohlfeiler Erledigung geordnet werden.
Für Streitigkeiten von geringem Betrag wird ein abgekürztes Verfahren ein¬
geführt" (ez. 69).

Unter den Volks- und staatswirthschaftlichen Grundsätzen
nimmt die Einführung der Progressivsteuer für Einkommen und Vermögen
eine hervorragende Stelle ein. „Der Staat erhebt eine Erbschaftssteuer pro¬
gressiv nach der Entfernung der Verwandtschaft und der Größe der Erb¬
schaft". „Es dürfen keine neuen Steuern auf den Consum unentbehrlicher
Lebensmittel eingeführt werden- Die Salzabgabe ist sofort zu vermindern."
„Die Stimmberechtigung verpflichtet zu einem mäßigen und auf alle gleich
zu legenden Beitrag an die öffentlichen Lasten." „Steuerprivilegien zu
Gunsten einzelner Privater oder Erwerbsgesellschaften sind unzulässig" (§. 19).
„Die Cantonal- und Bezirksbeamten, sowie die Notare erhalten Besoldungen
nach Maßgabe ihrer Geschäftslast. Die Gebühren und Sporteln fallen in
der Regel an die Staatskasse" (§. 20). „Die Ausübung jeder Berufsart in
Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe ist frei" (§. 21). Die Armen¬
pflege verbleibt den Gemeinden. Jedoch unterstützt der Staat diejenigen Ge¬
meinden, welche selbst bedürftig sind, zur Erleichterung ihrer Armenlasten. Er
fördert ferner die Entwickelung des auf Selbsthilfe beruhenden Genossenschafts¬
wesens und erläßt auf dem Wege der Gesetzgebung die zum Schutze der Ar¬
beiter nöthigen Bestimmungen". „Er errichtet zur Hebung des allgemeinen
Creditwesens beförderlich eine Cantonalbcmk" (Z. 22). „Die Unterstützung
des Staates erstreckt sich auf alle Straßentlassen mit Ausnahme der Neben¬
straßen". „Die Eisenbahnen, welche um ihrer volkswirthschaftlichen Bedeu¬
tung willen außerordentliche Privilegien seitens des Staates genießen, sind
unter dessen Aufsicht dieser Bestimmung entsprechend zu verwalten. Die¬
jenigen Gebietstheile des Cantons, welche in Hinsicht auf Bevölkerung und
Verkehr' mit denen auf gleichen Linien stehen, welche mit Staatshilfe zu
Eisenbahnen gelangt sind, haben ebenfalls Anspruch auf Staatsunterstützung"
(tztz. 25 u. 26). Endlich „übernimmt der Staat die erste militairische Aus¬
rüstung der Wehrpflichtigen" (§. 27).

Der Abschnitt über „Gesetzgebung und Volksvertretung" ent¬
hält diejenigen Bestimmungen, welche der züricherischen Verfassung am meisten
ihr eigenthümliches Gepräge (das der sogenannten reinen Demokratie) geben und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/260>, abgerufen am 25.08.2024.