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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Verfassungsrevision sollte hierzu nur als Mittel dienen, wie dies in der
Schweiz so häufig vorkommt, weil unglücklicherweise die Verfassungen solche
Personalveränderungen nur dann gestatten, wenn eine Totalrevision be¬
schlossen wird. Eine Totalrevision bedeutet aber natürlich so viel als An¬
tastung der ganzen Organisation des öffentlichen Lebens und um eine solche
den Volksmassen wünschenswert!) und nothwendig erscheinen zu lassen, bedarf
es selbstverständlich des Aufgebots der Volksleidenschaften. Die Opposition
griff von Anfang an zu Mitteln, welche den Ursprung der Volksbewegung
falschem. Das ursprüngliche Programm der Volksführer, welches sich fast
ganz oder doch schon ziemlich abgeschwächt in dem ersten Entwurf der neuen
Verfassung wiederfindet, verrieth weder hohe Ideen, noch das Streben nach
soliden und gereiften. Reformen. Man machte Versprechungen sowohl poli¬
tischer als socialer Natur nach allen Seiten hin. Den Einen versprach man
Erweiterung der Volksrechte, Schwächung der Regierungsgewalt, Verminde¬
rung der Beamtenzahl. größere Unabhängigkeit der Gemeinden; den Andern
Steuererleichterung, vollständige und unentgeltliche Ausrüstung der Wehr¬
pflichtigen durch den Staat, Ermäßigung der Gemeindelasten für das Straßen¬
wesen, eine Staatsbank, den Bau von Eisenbahnen, Revision der Gesetze
über Schuldeneintreibung, Aufhebung der Gesetze über die Arbeitercoalitionen
und Aehnliches. Manche dieser Gesetze tragen nur zu deutlich das Gepräge
der Demagogie an sich, welcher übrigens auch einige Führer der Bewegung
nahe standen.

Unter den von den Demokraten gegen das System geltend gemachten
Beschwerdepunkten wurden Anfangs namentlich zwei in den Vordergrund
geschoben: die Stellung der Arbeiter gegenüber der Gesetzgebung und die
Gereiztheit der Landschaft gegen die Hauptstadt. In letzterer Beziehung --
auf den erstern Punkt kommen wir später zurück -- warf man der Re¬
gierung eine ganze Reihe von übermäßigen Ausgaben vor, von denen die
Stadt Zürich auf Kosten des übrigen Cantons Nutzen ziehe. Darunter be¬
fand sich eine Anzahl von großartigen, Bauten in der Stadt, wie der des
Polytechnikums, eines neuen Quais und einer Luxusbrücke und einer großen
Irrenanstalt. Bei genauerer Würdigung dieser Vorwürfe scheinen dieselben
jedoch in keinem Verhältnisse zu dem Lärm zu stehen, den man mit denselben
zu machen suchte.

Im Großen und Ganzen genommen, wurde übrigens das System durch
seine eigenen Waffen geschlagen: durch die Ausschließltchkeit in der Politik und
durch seinen Materialismus. Mit den Beschwerden über die Vernachlässigung
der materiellen Interessen des Volkes mußten die Führer des letztern zunächst
auftreten, wenn sie auf weitere Erfolge hoffen wollten, da außer dem ersten
Wiederhall, den die Indignation des Phamphletisten über die Zustände des Justiz-


Verfassungsrevision sollte hierzu nur als Mittel dienen, wie dies in der
Schweiz so häufig vorkommt, weil unglücklicherweise die Verfassungen solche
Personalveränderungen nur dann gestatten, wenn eine Totalrevision be¬
schlossen wird. Eine Totalrevision bedeutet aber natürlich so viel als An¬
tastung der ganzen Organisation des öffentlichen Lebens und um eine solche
den Volksmassen wünschenswert!) und nothwendig erscheinen zu lassen, bedarf
es selbstverständlich des Aufgebots der Volksleidenschaften. Die Opposition
griff von Anfang an zu Mitteln, welche den Ursprung der Volksbewegung
falschem. Das ursprüngliche Programm der Volksführer, welches sich fast
ganz oder doch schon ziemlich abgeschwächt in dem ersten Entwurf der neuen
Verfassung wiederfindet, verrieth weder hohe Ideen, noch das Streben nach
soliden und gereiften. Reformen. Man machte Versprechungen sowohl poli¬
tischer als socialer Natur nach allen Seiten hin. Den Einen versprach man
Erweiterung der Volksrechte, Schwächung der Regierungsgewalt, Verminde¬
rung der Beamtenzahl. größere Unabhängigkeit der Gemeinden; den Andern
Steuererleichterung, vollständige und unentgeltliche Ausrüstung der Wehr¬
pflichtigen durch den Staat, Ermäßigung der Gemeindelasten für das Straßen¬
wesen, eine Staatsbank, den Bau von Eisenbahnen, Revision der Gesetze
über Schuldeneintreibung, Aufhebung der Gesetze über die Arbeitercoalitionen
und Aehnliches. Manche dieser Gesetze tragen nur zu deutlich das Gepräge
der Demagogie an sich, welcher übrigens auch einige Führer der Bewegung
nahe standen.

Unter den von den Demokraten gegen das System geltend gemachten
Beschwerdepunkten wurden Anfangs namentlich zwei in den Vordergrund
geschoben: die Stellung der Arbeiter gegenüber der Gesetzgebung und die
Gereiztheit der Landschaft gegen die Hauptstadt. In letzterer Beziehung —
auf den erstern Punkt kommen wir später zurück — warf man der Re¬
gierung eine ganze Reihe von übermäßigen Ausgaben vor, von denen die
Stadt Zürich auf Kosten des übrigen Cantons Nutzen ziehe. Darunter be¬
fand sich eine Anzahl von großartigen, Bauten in der Stadt, wie der des
Polytechnikums, eines neuen Quais und einer Luxusbrücke und einer großen
Irrenanstalt. Bei genauerer Würdigung dieser Vorwürfe scheinen dieselben
jedoch in keinem Verhältnisse zu dem Lärm zu stehen, den man mit denselben
zu machen suchte.

Im Großen und Ganzen genommen, wurde übrigens das System durch
seine eigenen Waffen geschlagen: durch die Ausschließltchkeit in der Politik und
durch seinen Materialismus. Mit den Beschwerden über die Vernachlässigung
der materiellen Interessen des Volkes mußten die Führer des letztern zunächst
auftreten, wenn sie auf weitere Erfolge hoffen wollten, da außer dem ersten
Wiederhall, den die Indignation des Phamphletisten über die Zustände des Justiz-


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[0258] Verfassungsrevision sollte hierzu nur als Mittel dienen, wie dies in der Schweiz so häufig vorkommt, weil unglücklicherweise die Verfassungen solche Personalveränderungen nur dann gestatten, wenn eine Totalrevision be¬ schlossen wird. Eine Totalrevision bedeutet aber natürlich so viel als An¬ tastung der ganzen Organisation des öffentlichen Lebens und um eine solche den Volksmassen wünschenswert!) und nothwendig erscheinen zu lassen, bedarf es selbstverständlich des Aufgebots der Volksleidenschaften. Die Opposition griff von Anfang an zu Mitteln, welche den Ursprung der Volksbewegung falschem. Das ursprüngliche Programm der Volksführer, welches sich fast ganz oder doch schon ziemlich abgeschwächt in dem ersten Entwurf der neuen Verfassung wiederfindet, verrieth weder hohe Ideen, noch das Streben nach soliden und gereiften. Reformen. Man machte Versprechungen sowohl poli¬ tischer als socialer Natur nach allen Seiten hin. Den Einen versprach man Erweiterung der Volksrechte, Schwächung der Regierungsgewalt, Verminde¬ rung der Beamtenzahl. größere Unabhängigkeit der Gemeinden; den Andern Steuererleichterung, vollständige und unentgeltliche Ausrüstung der Wehr¬ pflichtigen durch den Staat, Ermäßigung der Gemeindelasten für das Straßen¬ wesen, eine Staatsbank, den Bau von Eisenbahnen, Revision der Gesetze über Schuldeneintreibung, Aufhebung der Gesetze über die Arbeitercoalitionen und Aehnliches. Manche dieser Gesetze tragen nur zu deutlich das Gepräge der Demagogie an sich, welcher übrigens auch einige Führer der Bewegung nahe standen. Unter den von den Demokraten gegen das System geltend gemachten Beschwerdepunkten wurden Anfangs namentlich zwei in den Vordergrund geschoben: die Stellung der Arbeiter gegenüber der Gesetzgebung und die Gereiztheit der Landschaft gegen die Hauptstadt. In letzterer Beziehung — auf den erstern Punkt kommen wir später zurück — warf man der Re¬ gierung eine ganze Reihe von übermäßigen Ausgaben vor, von denen die Stadt Zürich auf Kosten des übrigen Cantons Nutzen ziehe. Darunter be¬ fand sich eine Anzahl von großartigen, Bauten in der Stadt, wie der des Polytechnikums, eines neuen Quais und einer Luxusbrücke und einer großen Irrenanstalt. Bei genauerer Würdigung dieser Vorwürfe scheinen dieselben jedoch in keinem Verhältnisse zu dem Lärm zu stehen, den man mit denselben zu machen suchte. Im Großen und Ganzen genommen, wurde übrigens das System durch seine eigenen Waffen geschlagen: durch die Ausschließltchkeit in der Politik und durch seinen Materialismus. Mit den Beschwerden über die Vernachlässigung der materiellen Interessen des Volkes mußten die Führer des letztern zunächst auftreten, wenn sie auf weitere Erfolge hoffen wollten, da außer dem ersten Wiederhall, den die Indignation des Phamphletisten über die Zustände des Justiz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/258>, abgerufen am 25.08.2024.