Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.verschlungen. Bald mußte das Regensberger Gericht die Waffen strecken: Herr Locher machte sich nach diesem Siege nun an den Mann, den er, Durch diese Vorgänge hatte die politische Agitation eine bestimmte verschlungen. Bald mußte das Regensberger Gericht die Waffen strecken: Herr Locher machte sich nach diesem Siege nun an den Mann, den er, Durch diese Vorgänge hatte die politische Agitation eine bestimmte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0256" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121477"/> <p xml:id="ID_848" prev="#ID_847"> verschlungen. Bald mußte das Regensberger Gericht die Waffen strecken:<lb/> es wurde vollständig neu besetzt.</p><lb/> <p xml:id="ID_849"> Herr Locher machte sich nach diesem Siege nun an den Mann, den er,<lb/> mit Recht oder Unrecht, als den eigentlichen Mittelpunkt aller Mißbräuche<lb/> im Gerichtswesen betrachtete, an den Obergerichtspräsidenten Ultner, einen<lb/> Speeialfreund Escher's. Hiermit versetzte er dem System einen tödtlichen<lb/> Streich. Jedermann fühlte dies und nahm Partei für und wider. Ein<lb/> eigenthümlicher Zweikampf entspann sich nun zwischen den beiden Gegnern,<lb/> bei dem das Publicum gewissermaßen secundirte. Hier der Präsident des<lb/> obersten Gerichtshofes, unterstützt von der Mehrheit des Cantonraths, von<lb/> den Anhängern des Systems, von diesem selbst; dort der Pamphletist, ge¬<lb/> tragen von der Menge des Volkes. Jener vertheidigte sich damit, daß er<lb/> diesen als einundzwanzigsachen Verleumder vor Gericht zog; dieser, früher<lb/> Ankläger, jetzt selbst Beklagter, indem er seine Angriffe verdoppelte und<lb/> nun nicht mehr nur die Amtshandlungen, sondern auch das Privatleben<lb/> seines Feindes vor den Gerichtshof der öffentlichen Meinung brachte. Un¬<lb/> geheure Bewegung war die Folge. Das Obergericht, welches sich in und<lb/> mit seinem Präsidenten angegriffen fühlte, verlangte eine strenge Untersuchung<lb/> seiner Amtsführung. Die bereitwillig dazu niedergesetzte Commission erklärte,<lb/> daß das Gericht kein Tadel treffe und daß die schwersten Anschuldigungen gegen<lb/> den Präsidenten in seiner Eigenschaft als Richter auf keinen ausreichenden<lb/> Beweisen beruhten; nur hätten allerdings „einige unglückliche Urtheilssprüche"<lb/> stattgefunden. Der Cantonsrath erklärte sich hiermit zufriedengestellt.</p><lb/> <p xml:id="ID_850" next="#ID_851"> Durch diese Vorgänge hatte die politische Agitation eine bestimmte<lb/> Richtung erhalten. Das Volk hatte endlich den lang entbehrten Führer ge¬<lb/> funden. Locher war der populairste Mann des Cantons. Die radicale<lb/> Minderheit, bisher ohne alle, Action. schaarte sich um ihn und begann große<lb/> Volksversammlungen zu veranstalten und eine Petition um.Verfassungsrevision<lb/> durch eine constituirende Versammlung in Umlauf zu setzen. Statt der nöthi¬<lb/> gen 10,000 zählte dieselbe bald 27.000 Unterschriften. Der Cantonsrath<lb/> mußte nun nach Vorschrift der Verfassung die angeregte Frage dem Volke<lb/> zur Abstimmung vorlegen. Die Antwort war niederschmetternd; am 26, Ja¬<lb/> nuar 1868 verlangten 50,689 Bürger gegen 7376 die Revision und 47,776<lb/> gegen 10.0S7 beschlossen, daß dieselbe durch einen Verfassungsrath zu ge¬<lb/> schehen habe. Damit war die erste Periode der Bewegung abgeschlossen.<lb/> Fast das ganze Züricher Volk hatte an derselben Theil genommen und auf<lb/> seinen Beschluß fiel das „System" wie mit einem Schlage. Die Majorität<lb/> des Cantonsraths war wie moralisch vernichtet. Der Präsident des obersten<lb/> Gerichtshofes verzichtete unter dem Vorwande der Gefahr für seine person-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0256]
verschlungen. Bald mußte das Regensberger Gericht die Waffen strecken:
es wurde vollständig neu besetzt.
Herr Locher machte sich nach diesem Siege nun an den Mann, den er,
mit Recht oder Unrecht, als den eigentlichen Mittelpunkt aller Mißbräuche
im Gerichtswesen betrachtete, an den Obergerichtspräsidenten Ultner, einen
Speeialfreund Escher's. Hiermit versetzte er dem System einen tödtlichen
Streich. Jedermann fühlte dies und nahm Partei für und wider. Ein
eigenthümlicher Zweikampf entspann sich nun zwischen den beiden Gegnern,
bei dem das Publicum gewissermaßen secundirte. Hier der Präsident des
obersten Gerichtshofes, unterstützt von der Mehrheit des Cantonraths, von
den Anhängern des Systems, von diesem selbst; dort der Pamphletist, ge¬
tragen von der Menge des Volkes. Jener vertheidigte sich damit, daß er
diesen als einundzwanzigsachen Verleumder vor Gericht zog; dieser, früher
Ankläger, jetzt selbst Beklagter, indem er seine Angriffe verdoppelte und
nun nicht mehr nur die Amtshandlungen, sondern auch das Privatleben
seines Feindes vor den Gerichtshof der öffentlichen Meinung brachte. Un¬
geheure Bewegung war die Folge. Das Obergericht, welches sich in und
mit seinem Präsidenten angegriffen fühlte, verlangte eine strenge Untersuchung
seiner Amtsführung. Die bereitwillig dazu niedergesetzte Commission erklärte,
daß das Gericht kein Tadel treffe und daß die schwersten Anschuldigungen gegen
den Präsidenten in seiner Eigenschaft als Richter auf keinen ausreichenden
Beweisen beruhten; nur hätten allerdings „einige unglückliche Urtheilssprüche"
stattgefunden. Der Cantonsrath erklärte sich hiermit zufriedengestellt.
Durch diese Vorgänge hatte die politische Agitation eine bestimmte
Richtung erhalten. Das Volk hatte endlich den lang entbehrten Führer ge¬
funden. Locher war der populairste Mann des Cantons. Die radicale
Minderheit, bisher ohne alle, Action. schaarte sich um ihn und begann große
Volksversammlungen zu veranstalten und eine Petition um.Verfassungsrevision
durch eine constituirende Versammlung in Umlauf zu setzen. Statt der nöthi¬
gen 10,000 zählte dieselbe bald 27.000 Unterschriften. Der Cantonsrath
mußte nun nach Vorschrift der Verfassung die angeregte Frage dem Volke
zur Abstimmung vorlegen. Die Antwort war niederschmetternd; am 26, Ja¬
nuar 1868 verlangten 50,689 Bürger gegen 7376 die Revision und 47,776
gegen 10.0S7 beschlossen, daß dieselbe durch einen Verfassungsrath zu ge¬
schehen habe. Damit war die erste Periode der Bewegung abgeschlossen.
Fast das ganze Züricher Volk hatte an derselben Theil genommen und auf
seinen Beschluß fiel das „System" wie mit einem Schlage. Die Majorität
des Cantonsraths war wie moralisch vernichtet. Der Präsident des obersten
Gerichtshofes verzichtete unter dem Vorwande der Gefahr für seine person-
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