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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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rath g.ä Koe geschehen können, und wenn 10,000 Bürger eine solche verlang¬
ten, so sollte das Volk befragt werden und beziehenden Falls ferner entschei¬
den, ob die Revision durch den Cantons- oder durch einen Verfassungsrath
zu geschehen habe. Diese Reformen besaßen eine von den Meisten nicht ge¬
ahnte Tragweite. Zur Beruhigung des Landes und zur Sicherung des
Systems waren sie angenommen worden; sie hatten aber, wenn auch erst
nach zwei Jahren, die Folge, daß die Volksbewegung erleichtert wurde, die
den Sturz des Systems bezweckte und herbeiführte.

Man fragt sich mit Recht, wie das Zürichervolk ein System, das trotz
aller seiner unbestreitbaren Vorzüge, doch mit großen Schwächen behaftet war,
so lange ertragen konnte. Die Antwort ist indessen nicht so schwer. Denn
dem Volke fehlten eben die Führer. Die öffentlichen Geschäfte hatten längst
schon aufgehört, eine eigentliche "Carriere" darzubieten und mancher, der sich
unter andern Verhältnissen gern denselben gewidmet hätte, pflegte jetzt lieber
seine Privatinteressen. Wer noch nach politischem Einfluß geizte, schloß sich
dem "System" an. Die wenigen, welche sich etwa an die Spitze einer Volks¬
bewegung zu stellen Lust gehabt hätten, waren entweder zu wenig bekannt
oder flößten zu geringes Vertrauen ein.

Ein Advocat von Zürich, Herr Dr. Friedrich Locher, hatte vermöge
seiner Praxis öfter Gelegenheit gehabt, die Mißbräuche, welche aus der frü¬
heren Wahlart der Gerichte und Gemeindeverwaltungen sich eingebürgert
hatten, aus nächster Nähe kennen zu lernen; so besonders im Bezirke
Regensberg, wo der Bezirksrath seine vormundschaftlichen Obliegenheiten
entweder schlecht oder gar nicht erfüllte und wo das Gericht erster Instanz
sich in seinen Urtheilen durch Erwägungen leiten ließ, die mit der Billigkeit
nichts, mit der Gerechtigkeit wenig gemein hatten. Hr. Locher enthüllte diese
Zustände in einem ebenso geistvoll wie scharf geschriebenen Pamphlet "Die
Freiherren von Regensberg", das sofort im ganzen Canton und weit
über denselben hinaus einen ungeheuren Wiederhall fand. Mag man sonst
über dieses Pamphlet denken, wie man will, so beruhte dasselbe doch un¬
verkennbar auf wahren Grundlagen und der Verfasser hat, wenn er sich auch
zuweilen von seinem unvergleichlichen Talente zur Satyre hinreißen ließ,
offenbar nirgend gegen sein besseres Wissen Unwahres vorgebracht. Jeden¬
falls hat er, alleinstehend und ohne Bundesgenossen, wie er Anfangs war,
einem mächtigen System gegenüber einen persönlichen Muth bewiesen, der
nicht hoch genug angeschlagen werden kann. So viel ist aber gewiß, daß
das Volk ihm Glauben schenkte. Er hatte sich zum Organ des allgemeinen
Gefühls gemacht, dem Mißtrauen, dem Unbehagen der Menge und deren
Klagen Ausdruck gegeben. Als der Kampf einmal eröffnet war, unterhielt er
ihn mit aller Kraft. Auch das zweite und dritte Pamphlet wurden so zu sagen


rath g.ä Koe geschehen können, und wenn 10,000 Bürger eine solche verlang¬
ten, so sollte das Volk befragt werden und beziehenden Falls ferner entschei¬
den, ob die Revision durch den Cantons- oder durch einen Verfassungsrath
zu geschehen habe. Diese Reformen besaßen eine von den Meisten nicht ge¬
ahnte Tragweite. Zur Beruhigung des Landes und zur Sicherung des
Systems waren sie angenommen worden; sie hatten aber, wenn auch erst
nach zwei Jahren, die Folge, daß die Volksbewegung erleichtert wurde, die
den Sturz des Systems bezweckte und herbeiführte.

Man fragt sich mit Recht, wie das Zürichervolk ein System, das trotz
aller seiner unbestreitbaren Vorzüge, doch mit großen Schwächen behaftet war,
so lange ertragen konnte. Die Antwort ist indessen nicht so schwer. Denn
dem Volke fehlten eben die Führer. Die öffentlichen Geschäfte hatten längst
schon aufgehört, eine eigentliche „Carriere" darzubieten und mancher, der sich
unter andern Verhältnissen gern denselben gewidmet hätte, pflegte jetzt lieber
seine Privatinteressen. Wer noch nach politischem Einfluß geizte, schloß sich
dem „System" an. Die wenigen, welche sich etwa an die Spitze einer Volks¬
bewegung zu stellen Lust gehabt hätten, waren entweder zu wenig bekannt
oder flößten zu geringes Vertrauen ein.

Ein Advocat von Zürich, Herr Dr. Friedrich Locher, hatte vermöge
seiner Praxis öfter Gelegenheit gehabt, die Mißbräuche, welche aus der frü¬
heren Wahlart der Gerichte und Gemeindeverwaltungen sich eingebürgert
hatten, aus nächster Nähe kennen zu lernen; so besonders im Bezirke
Regensberg, wo der Bezirksrath seine vormundschaftlichen Obliegenheiten
entweder schlecht oder gar nicht erfüllte und wo das Gericht erster Instanz
sich in seinen Urtheilen durch Erwägungen leiten ließ, die mit der Billigkeit
nichts, mit der Gerechtigkeit wenig gemein hatten. Hr. Locher enthüllte diese
Zustände in einem ebenso geistvoll wie scharf geschriebenen Pamphlet „Die
Freiherren von Regensberg", das sofort im ganzen Canton und weit
über denselben hinaus einen ungeheuren Wiederhall fand. Mag man sonst
über dieses Pamphlet denken, wie man will, so beruhte dasselbe doch un¬
verkennbar auf wahren Grundlagen und der Verfasser hat, wenn er sich auch
zuweilen von seinem unvergleichlichen Talente zur Satyre hinreißen ließ,
offenbar nirgend gegen sein besseres Wissen Unwahres vorgebracht. Jeden¬
falls hat er, alleinstehend und ohne Bundesgenossen, wie er Anfangs war,
einem mächtigen System gegenüber einen persönlichen Muth bewiesen, der
nicht hoch genug angeschlagen werden kann. So viel ist aber gewiß, daß
das Volk ihm Glauben schenkte. Er hatte sich zum Organ des allgemeinen
Gefühls gemacht, dem Mißtrauen, dem Unbehagen der Menge und deren
Klagen Ausdruck gegeben. Als der Kampf einmal eröffnet war, unterhielt er
ihn mit aller Kraft. Auch das zweite und dritte Pamphlet wurden so zu sagen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/255>, abgerufen am 25.08.2024.