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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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dahin. Dennoch dachte dieselbe nicht an den Rücktritt. Im Gegentheil, sie
untersagte die fernere Organisation der Opposition in Volksvereinen; die
Gemeinde- und anderen Versammlungen wurden polizeilich aufgelöst. Da
verbreitete sich das. übrigens ganz unbegründete Gerücht, die Regierung wolle
die Cantone, mit denen sie eine gegenseitige Garantie der Verfassungen ab¬
geschlossen, zu ihrer Hilfe herbeirufen. Dies war entscheidend. Große Volks¬
massen, die Meisten zwar ohne Waffen, aber entschlossenen Muthes, zogen
Psalmen singend in die Stadt. Ein Angriff des Militairs zerstreute zwar
das Volk; aber die Regierung war damit thatsächlich gefallen, um sich nicht
wieder zu erheben. Der Cantonsrath, im Großmünster versammelt und neuer¬
dings von den Massen umwogt, votirte seine eigene und der Regierung Ab¬
dankung.

Eine neue Regierung, welche einige sehr konservative Elemente zählte,
deren hervorragendste Mitglieder jedoch liberal waren, und ein Cantons¬
rath mit vorwiegend reactionairen Elementen waren die nächsten Folgen die¬
ses Umschwungs der Dinge. Die Zusammensetzung des Cantonsraths und
der Regierung wurde jedoch schon bei den nächsten Wahlen im Jahre 1842
wesentlich im liberalen Sinne modificirt, indem die hervorragendsten Männer
des 1839 gestürzten Systems wieder an die öffentlichen Geschäfte gerufen
wurden und die Parteien sich von nun an in den höchsten Behörden so
ziemlich das Gleichgewicht hielten. Drei Jahre später (1843), als Zürich bei
der bekannten Berufung der Jesuiten nach Luzern, die einen großen Theil
des schweizerischen Volkes so tief verletzte, als eidgenössischer Vorort den
streng legalen Standpunkt festhalten wollte, wurde die Regierung, deren
periodische Drittelerneuerung gerade stattfinden sollte, im radicalen Sinne
verändert, und von hier an datirt das "System", welches nun volle 22 Jahre
hindurch die Politik des Ccintons leitete. Dr. Furrer von Winterthur trat
an dessen Spitze, bis er 1848 als Mitglied des Bundesraths nach Bern be¬
rufen wurde. An seiner Stelle trat nun Herr Dr. Alfred Escher, der Sohn
eines durch amerikanische Spekulationen zum Millionair gewordenen Züricher
Kaufmanns.

Dr. Escher, obschon ursprünglich Jurist, neigte sich bis nach seinem Ein¬
tritt in die Regierung mehr zu nationalöconomischen Studien hin. Sein
staatsmännisches Ideal war die Hebung des allgemeinen Wohlstandes, ein
an sich sehr schönes Ziel, welches aber nicht ungestraft verfolgt wird, wenn
es nicht Hand in Hand geht mit den sittlichen und socialen Fortschritten des
öffentlichen und des Privatlebens. Die Verdienste Escher's in jener Richtung
sind übrigens nicht hoch genug anzuschlagen. Sie erstrecken sich auch über
seinen Canton hinaus. Seinem Einfluß in der schweizerischen Bundesver¬
sammlung war u. A. die Errichtung des eidgenössischen Polytechnicums in


dahin. Dennoch dachte dieselbe nicht an den Rücktritt. Im Gegentheil, sie
untersagte die fernere Organisation der Opposition in Volksvereinen; die
Gemeinde- und anderen Versammlungen wurden polizeilich aufgelöst. Da
verbreitete sich das. übrigens ganz unbegründete Gerücht, die Regierung wolle
die Cantone, mit denen sie eine gegenseitige Garantie der Verfassungen ab¬
geschlossen, zu ihrer Hilfe herbeirufen. Dies war entscheidend. Große Volks¬
massen, die Meisten zwar ohne Waffen, aber entschlossenen Muthes, zogen
Psalmen singend in die Stadt. Ein Angriff des Militairs zerstreute zwar
das Volk; aber die Regierung war damit thatsächlich gefallen, um sich nicht
wieder zu erheben. Der Cantonsrath, im Großmünster versammelt und neuer¬
dings von den Massen umwogt, votirte seine eigene und der Regierung Ab¬
dankung.

Eine neue Regierung, welche einige sehr konservative Elemente zählte,
deren hervorragendste Mitglieder jedoch liberal waren, und ein Cantons¬
rath mit vorwiegend reactionairen Elementen waren die nächsten Folgen die¬
ses Umschwungs der Dinge. Die Zusammensetzung des Cantonsraths und
der Regierung wurde jedoch schon bei den nächsten Wahlen im Jahre 1842
wesentlich im liberalen Sinne modificirt, indem die hervorragendsten Männer
des 1839 gestürzten Systems wieder an die öffentlichen Geschäfte gerufen
wurden und die Parteien sich von nun an in den höchsten Behörden so
ziemlich das Gleichgewicht hielten. Drei Jahre später (1843), als Zürich bei
der bekannten Berufung der Jesuiten nach Luzern, die einen großen Theil
des schweizerischen Volkes so tief verletzte, als eidgenössischer Vorort den
streng legalen Standpunkt festhalten wollte, wurde die Regierung, deren
periodische Drittelerneuerung gerade stattfinden sollte, im radicalen Sinne
verändert, und von hier an datirt das „System", welches nun volle 22 Jahre
hindurch die Politik des Ccintons leitete. Dr. Furrer von Winterthur trat
an dessen Spitze, bis er 1848 als Mitglied des Bundesraths nach Bern be¬
rufen wurde. An seiner Stelle trat nun Herr Dr. Alfred Escher, der Sohn
eines durch amerikanische Spekulationen zum Millionair gewordenen Züricher
Kaufmanns.

Dr. Escher, obschon ursprünglich Jurist, neigte sich bis nach seinem Ein¬
tritt in die Regierung mehr zu nationalöconomischen Studien hin. Sein
staatsmännisches Ideal war die Hebung des allgemeinen Wohlstandes, ein
an sich sehr schönes Ziel, welches aber nicht ungestraft verfolgt wird, wenn
es nicht Hand in Hand geht mit den sittlichen und socialen Fortschritten des
öffentlichen und des Privatlebens. Die Verdienste Escher's in jener Richtung
sind übrigens nicht hoch genug anzuschlagen. Sie erstrecken sich auch über
seinen Canton hinaus. Seinem Einfluß in der schweizerischen Bundesver¬
sammlung war u. A. die Errichtung des eidgenössischen Polytechnicums in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/251>, abgerufen am 05.02.2025.