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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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zur Schule der deutschen Romantik, sein "verwerfendes Urtheil über die Ro¬
mantik". Ob Herrn Honegger die Romantiker zusagen oder nicht, erscheint
uns für die Culturgeschichte, um welche es sich doch hier handeln sollte, er¬
staunlich gleichgiltig; ob seine kritische Würdigung der Schlegel und Tieck u. s. f..
gerecht oder ungerecht sei, mögen Literaturhistoriker oder ,Aesthetiker von
Fach entscheiden. Wer aber in dem Buche "Allgemeine Culturgeschichte"
suchen will, darf sich billig darüber verwundern, daß er vorzugsweise Lite¬
raturgeschichte und ästhetisches Raisonnement darin findet, und daß von den
Dichtern am Anfang des Jahrhunderts fast ausschließlich die Romantiker
und von diesen wiederum fast ausschließlich die deutschen Romantiker Be¬
rücksichtigung gefunden haben. Fast scheint es, als sei das Werk mit so
umfassenden Titel nur deshalb unternommen worden, um des Verfassers
Urtheil über die Romantiker in Deutschland drucken zu lassen. Das hätte
allerdings auch in bescheidenerer Form geschehen können. Aber "die Grund¬
gedanken der Zeit kurz und scharf zu firiren, ihr die Signatur abzulauschen"
ist schwerer, als der Verfasser sich gedacht hat, und besteht in ganz Anderem
als in dem ästhetischen Urtheil über einige Vertreter der schönen Literatur.
Wenn es sich z, B. um das Gebiet der Politik handelt, insofern es cultur¬
historisch betrachtet werden soll, so ist mit einer kurzen Aufzählung der Er¬
eignisse aus der Staatengeschichte noch sehr wenig gethan. Es muß viel¬
mehr der Sinn und Geist der Staats^ und völkerrechtlichen Entwickelung, der
Finanzen und Polizei, der Rechtsinstitutionen und der Rechtspraxis erfaßt,
das Woher und Wohin einer solchen Entwickelung gedeutet, mit einem Worte:
es muß die Summe gezogen werden.

Man hat der Geschichtsschreibung den Vorwurf gemacht, sie sei keine
Wissenschaft, weil sie bei dem Einzelnen, Besonderen stehen bleibe. Solange
es sich, wie bisher fast ausschließlich, um Staatengeschichte handelte, war ein
solcher Vorwurf nicht ungegründet. Die Behandlung der Culturgeschichte,
nicht der Culturgeschichte in dem hergebrachten Sinne, sondern in dem
Sinne einer Sittengeschichte, einer Geschichte der Jdeenrichtungen, wie der
kürzlich verstorbene H. Ritter in seinem Briefe an L. Ranke (Ueber deutsche
Geschichtschreibung, Leipzig 1867) diese Aufgabe angedeutet hat, bietet der
Geschichtsforschung Gelegenheit wissenschaftlicher zu werden. Zu einer solchen
allgemeinen Culturgeschichte werden noch viele Vorarbeiten zu machen sein,
aber, wie Ritter richtig bemerkt, man wird die Specialgeschichte anders
treiben, wenn man den Gesichtspunkt der allgemeinen Sittengeschichte fest¬
hält. Man wird, fügen wir hinzu, mit besserem Erfolge "der Zeit ihre
Signatur ablauschen", wenn man ganz anders arbeitet wie Herr Honegger.




zur Schule der deutschen Romantik, sein „verwerfendes Urtheil über die Ro¬
mantik". Ob Herrn Honegger die Romantiker zusagen oder nicht, erscheint
uns für die Culturgeschichte, um welche es sich doch hier handeln sollte, er¬
staunlich gleichgiltig; ob seine kritische Würdigung der Schlegel und Tieck u. s. f..
gerecht oder ungerecht sei, mögen Literaturhistoriker oder ,Aesthetiker von
Fach entscheiden. Wer aber in dem Buche „Allgemeine Culturgeschichte"
suchen will, darf sich billig darüber verwundern, daß er vorzugsweise Lite¬
raturgeschichte und ästhetisches Raisonnement darin findet, und daß von den
Dichtern am Anfang des Jahrhunderts fast ausschließlich die Romantiker
und von diesen wiederum fast ausschließlich die deutschen Romantiker Be¬
rücksichtigung gefunden haben. Fast scheint es, als sei das Werk mit so
umfassenden Titel nur deshalb unternommen worden, um des Verfassers
Urtheil über die Romantiker in Deutschland drucken zu lassen. Das hätte
allerdings auch in bescheidenerer Form geschehen können. Aber „die Grund¬
gedanken der Zeit kurz und scharf zu firiren, ihr die Signatur abzulauschen"
ist schwerer, als der Verfasser sich gedacht hat, und besteht in ganz Anderem
als in dem ästhetischen Urtheil über einige Vertreter der schönen Literatur.
Wenn es sich z, B. um das Gebiet der Politik handelt, insofern es cultur¬
historisch betrachtet werden soll, so ist mit einer kurzen Aufzählung der Er¬
eignisse aus der Staatengeschichte noch sehr wenig gethan. Es muß viel¬
mehr der Sinn und Geist der Staats^ und völkerrechtlichen Entwickelung, der
Finanzen und Polizei, der Rechtsinstitutionen und der Rechtspraxis erfaßt,
das Woher und Wohin einer solchen Entwickelung gedeutet, mit einem Worte:
es muß die Summe gezogen werden.

Man hat der Geschichtsschreibung den Vorwurf gemacht, sie sei keine
Wissenschaft, weil sie bei dem Einzelnen, Besonderen stehen bleibe. Solange
es sich, wie bisher fast ausschließlich, um Staatengeschichte handelte, war ein
solcher Vorwurf nicht ungegründet. Die Behandlung der Culturgeschichte,
nicht der Culturgeschichte in dem hergebrachten Sinne, sondern in dem
Sinne einer Sittengeschichte, einer Geschichte der Jdeenrichtungen, wie der
kürzlich verstorbene H. Ritter in seinem Briefe an L. Ranke (Ueber deutsche
Geschichtschreibung, Leipzig 1867) diese Aufgabe angedeutet hat, bietet der
Geschichtsforschung Gelegenheit wissenschaftlicher zu werden. Zu einer solchen
allgemeinen Culturgeschichte werden noch viele Vorarbeiten zu machen sein,
aber, wie Ritter richtig bemerkt, man wird die Specialgeschichte anders
treiben, wenn man den Gesichtspunkt der allgemeinen Sittengeschichte fest¬
hält. Man wird, fügen wir hinzu, mit besserem Erfolge „der Zeit ihre
Signatur ablauschen", wenn man ganz anders arbeitet wie Herr Honegger.




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[0231] zur Schule der deutschen Romantik, sein „verwerfendes Urtheil über die Ro¬ mantik". Ob Herrn Honegger die Romantiker zusagen oder nicht, erscheint uns für die Culturgeschichte, um welche es sich doch hier handeln sollte, er¬ staunlich gleichgiltig; ob seine kritische Würdigung der Schlegel und Tieck u. s. f.. gerecht oder ungerecht sei, mögen Literaturhistoriker oder ,Aesthetiker von Fach entscheiden. Wer aber in dem Buche „Allgemeine Culturgeschichte" suchen will, darf sich billig darüber verwundern, daß er vorzugsweise Lite¬ raturgeschichte und ästhetisches Raisonnement darin findet, und daß von den Dichtern am Anfang des Jahrhunderts fast ausschließlich die Romantiker und von diesen wiederum fast ausschließlich die deutschen Romantiker Be¬ rücksichtigung gefunden haben. Fast scheint es, als sei das Werk mit so umfassenden Titel nur deshalb unternommen worden, um des Verfassers Urtheil über die Romantiker in Deutschland drucken zu lassen. Das hätte allerdings auch in bescheidenerer Form geschehen können. Aber „die Grund¬ gedanken der Zeit kurz und scharf zu firiren, ihr die Signatur abzulauschen" ist schwerer, als der Verfasser sich gedacht hat, und besteht in ganz Anderem als in dem ästhetischen Urtheil über einige Vertreter der schönen Literatur. Wenn es sich z, B. um das Gebiet der Politik handelt, insofern es cultur¬ historisch betrachtet werden soll, so ist mit einer kurzen Aufzählung der Er¬ eignisse aus der Staatengeschichte noch sehr wenig gethan. Es muß viel¬ mehr der Sinn und Geist der Staats^ und völkerrechtlichen Entwickelung, der Finanzen und Polizei, der Rechtsinstitutionen und der Rechtspraxis erfaßt, das Woher und Wohin einer solchen Entwickelung gedeutet, mit einem Worte: es muß die Summe gezogen werden. Man hat der Geschichtsschreibung den Vorwurf gemacht, sie sei keine Wissenschaft, weil sie bei dem Einzelnen, Besonderen stehen bleibe. Solange es sich, wie bisher fast ausschließlich, um Staatengeschichte handelte, war ein solcher Vorwurf nicht ungegründet. Die Behandlung der Culturgeschichte, nicht der Culturgeschichte in dem hergebrachten Sinne, sondern in dem Sinne einer Sittengeschichte, einer Geschichte der Jdeenrichtungen, wie der kürzlich verstorbene H. Ritter in seinem Briefe an L. Ranke (Ueber deutsche Geschichtschreibung, Leipzig 1867) diese Aufgabe angedeutet hat, bietet der Geschichtsforschung Gelegenheit wissenschaftlicher zu werden. Zu einer solchen allgemeinen Culturgeschichte werden noch viele Vorarbeiten zu machen sein, aber, wie Ritter richtig bemerkt, man wird die Specialgeschichte anders treiben, wenn man den Gesichtspunkt der allgemeinen Sittengeschichte fest¬ hält. Man wird, fügen wir hinzu, mit besserem Erfolge „der Zeit ihre Signatur ablauschen", wenn man ganz anders arbeitet wie Herr Honegger.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/231>, abgerufen am 25.08.2024.