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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Punkt subjectiver ästhetischer Liebhaberei betrachtet werden. Bei Männern wie
Gervinus kann der Verfasser lernen, die Bedeutung literarischer Größen im Zu¬
sammenhange mit den Interessen und Bestrebungen ihrer Zeit zu würdigen,
darzustellen; mag er aber solche psychologische Portraits noch so sehr häufen, so
wird daraus noch keine Culturgeschichte, sondern nur ein Versuch literarhistorischer
Schöngeisterei. Sein früheres Buch nannte der Verfasser "Cultur und Literatur".
Er stellte letztere neben die erstere, gleichsam als schloßen Cultur und Literatur
einander aus. In seinem letzten Werke bleibt die Literatur, wie sie besprochen
wird, ebenfalls neben,außerhalb der Cultur. Ueber ihren Zusammenhang mit
den Culturinteressen der neuesten Zeit erfahren wir so gut wie nichts.

Ueberall kommt es dem Verfasser mehr darauf an, einzelne Essay's zu
schreiben als Allgemeine Culturgeschichte, sogar wenn es sich um des Ver¬
fassers Lieblingsgebiet handelt. Ueberall ist die Auswahl der Stoffe eine zu¬
fällige. Von Gentz wird acht Seiten gesprochen, während der Geschichte der
Geschichtschreibung kaum eine Seite gewidmet ist. Ueber Uhland wird sehr
ausführlich gehandelt, während Schiller und Goethe erstaunlicher Weise gar
nicht vorkommen. Romantiker wie Brentano werden mit Sorgfalt be¬
sprochen, die Classiker dagegen fast vergessen. Alles über Heinrich v. Kleist
auf neun Seiten Gesagte ist sehr hübsch und treffend, aber es nimmt sich
sehr wunderlich.aus, wenn daneben den Schillerschen Stücken etwas weniger
als eine Zeile gewidmet ist. Arndt, der Dichter, interessirt den Verfasser
viel mehr, wie Arndt's "Geist der Zeit", dessen Honegger nicht erwähnt.
Von Usteri werden eine Menge Gedichte auf mehreren Seiten namhaft
gemacht und des Breiteren besprochen, Niebuhr's dagegen, dessen römische
Geschichte 1811 zu erscheinen begann, ist gar nicht gedacht.

Der Verfasser sagt in der Vorrede, diese literarhistorischen Portraits
hätten für ihn so sehr den meisten Werth, daß er den Rest fast blos als
das zur Vollständigkeit nothwendige Material betrachte. Damit stellt er sich
das sprechende Zeugniß aus, daß er viel besser thäte, an dem Abfassen
literarhistorischer Aufsätze Genüge zu haben und keine Culturgeschichte schrei¬
ben zu wollen, am wenigsten eine solche, welche späteren Historikern zum Weiter¬
bauen als Fundament dienen soll.

Der Verfasser spricht in der Vorrede ausführlich von seinen Grundan¬
schauungen, an denen er festhalte, von seinen Ueberzeugungen, seiner Sub>
jeetivität; er sagt, er sei gewohnt, sein eigenes Denken in die Dinge hinein¬
zulegen. Wenn man aber genauer zusieht, worauf sich alles dieses bezieht,
so ist es weder irgend ein festgestellter Begriff über das Wesen der Cultur¬
geschichte, noch eine Ansicht über die Art wie die vorliegende Aufgabe zu
lösen sei, noch sonst irgend etwas, das einem wissenschaftlichen Glaubens¬
bekenntniß ähnlich sähe, sondern nur sein individuelles Geschmacksverhältniß


Punkt subjectiver ästhetischer Liebhaberei betrachtet werden. Bei Männern wie
Gervinus kann der Verfasser lernen, die Bedeutung literarischer Größen im Zu¬
sammenhange mit den Interessen und Bestrebungen ihrer Zeit zu würdigen,
darzustellen; mag er aber solche psychologische Portraits noch so sehr häufen, so
wird daraus noch keine Culturgeschichte, sondern nur ein Versuch literarhistorischer
Schöngeisterei. Sein früheres Buch nannte der Verfasser „Cultur und Literatur".
Er stellte letztere neben die erstere, gleichsam als schloßen Cultur und Literatur
einander aus. In seinem letzten Werke bleibt die Literatur, wie sie besprochen
wird, ebenfalls neben,außerhalb der Cultur. Ueber ihren Zusammenhang mit
den Culturinteressen der neuesten Zeit erfahren wir so gut wie nichts.

Ueberall kommt es dem Verfasser mehr darauf an, einzelne Essay's zu
schreiben als Allgemeine Culturgeschichte, sogar wenn es sich um des Ver¬
fassers Lieblingsgebiet handelt. Ueberall ist die Auswahl der Stoffe eine zu¬
fällige. Von Gentz wird acht Seiten gesprochen, während der Geschichte der
Geschichtschreibung kaum eine Seite gewidmet ist. Ueber Uhland wird sehr
ausführlich gehandelt, während Schiller und Goethe erstaunlicher Weise gar
nicht vorkommen. Romantiker wie Brentano werden mit Sorgfalt be¬
sprochen, die Classiker dagegen fast vergessen. Alles über Heinrich v. Kleist
auf neun Seiten Gesagte ist sehr hübsch und treffend, aber es nimmt sich
sehr wunderlich.aus, wenn daneben den Schillerschen Stücken etwas weniger
als eine Zeile gewidmet ist. Arndt, der Dichter, interessirt den Verfasser
viel mehr, wie Arndt's „Geist der Zeit", dessen Honegger nicht erwähnt.
Von Usteri werden eine Menge Gedichte auf mehreren Seiten namhaft
gemacht und des Breiteren besprochen, Niebuhr's dagegen, dessen römische
Geschichte 1811 zu erscheinen begann, ist gar nicht gedacht.

Der Verfasser sagt in der Vorrede, diese literarhistorischen Portraits
hätten für ihn so sehr den meisten Werth, daß er den Rest fast blos als
das zur Vollständigkeit nothwendige Material betrachte. Damit stellt er sich
das sprechende Zeugniß aus, daß er viel besser thäte, an dem Abfassen
literarhistorischer Aufsätze Genüge zu haben und keine Culturgeschichte schrei¬
ben zu wollen, am wenigsten eine solche, welche späteren Historikern zum Weiter¬
bauen als Fundament dienen soll.

Der Verfasser spricht in der Vorrede ausführlich von seinen Grundan¬
schauungen, an denen er festhalte, von seinen Ueberzeugungen, seiner Sub>
jeetivität; er sagt, er sei gewohnt, sein eigenes Denken in die Dinge hinein¬
zulegen. Wenn man aber genauer zusieht, worauf sich alles dieses bezieht,
so ist es weder irgend ein festgestellter Begriff über das Wesen der Cultur¬
geschichte, noch eine Ansicht über die Art wie die vorliegende Aufgabe zu
lösen sei, noch sonst irgend etwas, das einem wissenschaftlichen Glaubens¬
bekenntniß ähnlich sähe, sondern nur sein individuelles Geschmacksverhältniß


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[0230] Punkt subjectiver ästhetischer Liebhaberei betrachtet werden. Bei Männern wie Gervinus kann der Verfasser lernen, die Bedeutung literarischer Größen im Zu¬ sammenhange mit den Interessen und Bestrebungen ihrer Zeit zu würdigen, darzustellen; mag er aber solche psychologische Portraits noch so sehr häufen, so wird daraus noch keine Culturgeschichte, sondern nur ein Versuch literarhistorischer Schöngeisterei. Sein früheres Buch nannte der Verfasser „Cultur und Literatur". Er stellte letztere neben die erstere, gleichsam als schloßen Cultur und Literatur einander aus. In seinem letzten Werke bleibt die Literatur, wie sie besprochen wird, ebenfalls neben,außerhalb der Cultur. Ueber ihren Zusammenhang mit den Culturinteressen der neuesten Zeit erfahren wir so gut wie nichts. Ueberall kommt es dem Verfasser mehr darauf an, einzelne Essay's zu schreiben als Allgemeine Culturgeschichte, sogar wenn es sich um des Ver¬ fassers Lieblingsgebiet handelt. Ueberall ist die Auswahl der Stoffe eine zu¬ fällige. Von Gentz wird acht Seiten gesprochen, während der Geschichte der Geschichtschreibung kaum eine Seite gewidmet ist. Ueber Uhland wird sehr ausführlich gehandelt, während Schiller und Goethe erstaunlicher Weise gar nicht vorkommen. Romantiker wie Brentano werden mit Sorgfalt be¬ sprochen, die Classiker dagegen fast vergessen. Alles über Heinrich v. Kleist auf neun Seiten Gesagte ist sehr hübsch und treffend, aber es nimmt sich sehr wunderlich.aus, wenn daneben den Schillerschen Stücken etwas weniger als eine Zeile gewidmet ist. Arndt, der Dichter, interessirt den Verfasser viel mehr, wie Arndt's „Geist der Zeit", dessen Honegger nicht erwähnt. Von Usteri werden eine Menge Gedichte auf mehreren Seiten namhaft gemacht und des Breiteren besprochen, Niebuhr's dagegen, dessen römische Geschichte 1811 zu erscheinen begann, ist gar nicht gedacht. Der Verfasser sagt in der Vorrede, diese literarhistorischen Portraits hätten für ihn so sehr den meisten Werth, daß er den Rest fast blos als das zur Vollständigkeit nothwendige Material betrachte. Damit stellt er sich das sprechende Zeugniß aus, daß er viel besser thäte, an dem Abfassen literarhistorischer Aufsätze Genüge zu haben und keine Culturgeschichte schrei¬ ben zu wollen, am wenigsten eine solche, welche späteren Historikern zum Weiter¬ bauen als Fundament dienen soll. Der Verfasser spricht in der Vorrede ausführlich von seinen Grundan¬ schauungen, an denen er festhalte, von seinen Ueberzeugungen, seiner Sub> jeetivität; er sagt, er sei gewohnt, sein eigenes Denken in die Dinge hinein¬ zulegen. Wenn man aber genauer zusieht, worauf sich alles dieses bezieht, so ist es weder irgend ein festgestellter Begriff über das Wesen der Cultur¬ geschichte, noch eine Ansicht über die Art wie die vorliegende Aufgabe zu lösen sei, noch sonst irgend etwas, das einem wissenschaftlichen Glaubens¬ bekenntniß ähnlich sähe, sondern nur sein individuelles Geschmacksverhältniß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/230>, abgerufen am 25.08.2024.