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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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heimathen der Zeichnung Abbruch thut, keinen wirklichen Fortschritt sehen
können.

In dem 1836 erschienenen Jocelyn begibt sich Lamartine aus der Lyrik
in das Gebiet der erzählenden Poesie, zeigt aber mit diesem Versuche nur,
daß die Lyrik sein eigentliches Feld ist. Der Gang der Erzählung ist ein¬
fach. Die poetische Reflexion tritt überall in den Vordergrund. Die psy¬
chologischen Vorgänge, die Stimmungen, Gedanken und Leidenschaften in der
Seele des Helden werden mit einer gewissen Breite geschildert, die vielfach
an die Stimmungsschilderungen in den "Betrachtungen" und den "Harmo¬
nien" erinnert. Schon die äußere Anlage der Erzählung, für welche die
Form eines von Jocelyn geführten Tagebuches gewählt ist, war ganz dazu
angethan, der Reflexion einen weiten Spielraum zu gestatten. Die gro߬
artige Alpennatur, in welche der Dichter den Haupttheil der Erzählung ver¬
legt hat, fordert zur Naturbetrachtung und Naturschilderung heraus. Und
grade in dieser Beziehung nimmt das Gedicht eine der ersten Stellen in der
französischen Literatur ein. Wenn in den früheren Gedichten die Natur¬
schilderung dazu diente, den Hintergrund oder das Motiv einer Seelen¬
stimmung abzugeben und nicht selten nur die Versinnlichung eines inneren
Zustandes, eines Gefühls, eines Gedankens bezweckte, oder wenn die Natur
nur als Spiegelbild des göttlichen Wesens oder als das Feld der göttlichen
Schöpferkraft erschien, so tritt in Jocelyn die Beschreibung und Schilderung
der Landschaft und der Naturscenen verhältnißmäßig selbständig auf.
In einer Reihe unvergleichlich schöner, mit wunderbarer Naturtreue bis in
die kleinsten Einzelheiten ausgeführte Gemälde führt uns der Dichter bald
die ärmlichen Hütten der Bergbewohner vor Augen, bald die großartigsten
Alpenlandschaften, bald in der hellsten Beleuchtung der Mittagssonne, bald
im dämmernden Licht des Mondes. Das Erwachen der reichen Alpennatur
im Frühling, das Rauschen der Gebirgsströme, das Auf- und Abwogen der
herbstlichen Nebel, das wüthende Brausen des winterlichen Orkans, die feier¬
liche Ruhe des Schneefeldes in den verschiedendsten Beleuchtungen -- all'
diese bald lieblichen, bald furchtbaren und wilden Naturscenen entfalten sich
mit dramatischer Lebendigkeit und Anschaulichkeit vor unseren Augen. Der
ganze Reichthum des französischen Sprachschatzes wird erschöpft, um der
Schilderung die möglichste Genauigkeit und Anschaulichkeit zu geben, und
man muß bekennen, daß von dem formgewandten Meister gehandhabt, die
Sprache in der Darstellung aller in die Sinnenwelt fallenden Erscheinungen
wirklich Außerordentliches leistet. Zuweilen gibt der Dichter so viel Detail,
daß die Aufmerksamkeit von dem Kern der Schilderung abgelenkt wird; auch
ist die häufige Verwendung nicht selten ziemlich gesuchter Gleichnisse zur Ver¬
deutlichung äußerer Gegenstände zu tadeln, da das Gleichnis) oft der


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heimathen der Zeichnung Abbruch thut, keinen wirklichen Fortschritt sehen
können.

In dem 1836 erschienenen Jocelyn begibt sich Lamartine aus der Lyrik
in das Gebiet der erzählenden Poesie, zeigt aber mit diesem Versuche nur,
daß die Lyrik sein eigentliches Feld ist. Der Gang der Erzählung ist ein¬
fach. Die poetische Reflexion tritt überall in den Vordergrund. Die psy¬
chologischen Vorgänge, die Stimmungen, Gedanken und Leidenschaften in der
Seele des Helden werden mit einer gewissen Breite geschildert, die vielfach
an die Stimmungsschilderungen in den „Betrachtungen" und den „Harmo¬
nien" erinnert. Schon die äußere Anlage der Erzählung, für welche die
Form eines von Jocelyn geführten Tagebuches gewählt ist, war ganz dazu
angethan, der Reflexion einen weiten Spielraum zu gestatten. Die gro߬
artige Alpennatur, in welche der Dichter den Haupttheil der Erzählung ver¬
legt hat, fordert zur Naturbetrachtung und Naturschilderung heraus. Und
grade in dieser Beziehung nimmt das Gedicht eine der ersten Stellen in der
französischen Literatur ein. Wenn in den früheren Gedichten die Natur¬
schilderung dazu diente, den Hintergrund oder das Motiv einer Seelen¬
stimmung abzugeben und nicht selten nur die Versinnlichung eines inneren
Zustandes, eines Gefühls, eines Gedankens bezweckte, oder wenn die Natur
nur als Spiegelbild des göttlichen Wesens oder als das Feld der göttlichen
Schöpferkraft erschien, so tritt in Jocelyn die Beschreibung und Schilderung
der Landschaft und der Naturscenen verhältnißmäßig selbständig auf.
In einer Reihe unvergleichlich schöner, mit wunderbarer Naturtreue bis in
die kleinsten Einzelheiten ausgeführte Gemälde führt uns der Dichter bald
die ärmlichen Hütten der Bergbewohner vor Augen, bald die großartigsten
Alpenlandschaften, bald in der hellsten Beleuchtung der Mittagssonne, bald
im dämmernden Licht des Mondes. Das Erwachen der reichen Alpennatur
im Frühling, das Rauschen der Gebirgsströme, das Auf- und Abwogen der
herbstlichen Nebel, das wüthende Brausen des winterlichen Orkans, die feier¬
liche Ruhe des Schneefeldes in den verschiedendsten Beleuchtungen — all'
diese bald lieblichen, bald furchtbaren und wilden Naturscenen entfalten sich
mit dramatischer Lebendigkeit und Anschaulichkeit vor unseren Augen. Der
ganze Reichthum des französischen Sprachschatzes wird erschöpft, um der
Schilderung die möglichste Genauigkeit und Anschaulichkeit zu geben, und
man muß bekennen, daß von dem formgewandten Meister gehandhabt, die
Sprache in der Darstellung aller in die Sinnenwelt fallenden Erscheinungen
wirklich Außerordentliches leistet. Zuweilen gibt der Dichter so viel Detail,
daß die Aufmerksamkeit von dem Kern der Schilderung abgelenkt wird; auch
ist die häufige Verwendung nicht selten ziemlich gesuchter Gleichnisse zur Ver¬
deutlichung äußerer Gegenstände zu tadeln, da das Gleichnis) oft der


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[0195] heimathen der Zeichnung Abbruch thut, keinen wirklichen Fortschritt sehen können. In dem 1836 erschienenen Jocelyn begibt sich Lamartine aus der Lyrik in das Gebiet der erzählenden Poesie, zeigt aber mit diesem Versuche nur, daß die Lyrik sein eigentliches Feld ist. Der Gang der Erzählung ist ein¬ fach. Die poetische Reflexion tritt überall in den Vordergrund. Die psy¬ chologischen Vorgänge, die Stimmungen, Gedanken und Leidenschaften in der Seele des Helden werden mit einer gewissen Breite geschildert, die vielfach an die Stimmungsschilderungen in den „Betrachtungen" und den „Harmo¬ nien" erinnert. Schon die äußere Anlage der Erzählung, für welche die Form eines von Jocelyn geführten Tagebuches gewählt ist, war ganz dazu angethan, der Reflexion einen weiten Spielraum zu gestatten. Die gro߬ artige Alpennatur, in welche der Dichter den Haupttheil der Erzählung ver¬ legt hat, fordert zur Naturbetrachtung und Naturschilderung heraus. Und grade in dieser Beziehung nimmt das Gedicht eine der ersten Stellen in der französischen Literatur ein. Wenn in den früheren Gedichten die Natur¬ schilderung dazu diente, den Hintergrund oder das Motiv einer Seelen¬ stimmung abzugeben und nicht selten nur die Versinnlichung eines inneren Zustandes, eines Gefühls, eines Gedankens bezweckte, oder wenn die Natur nur als Spiegelbild des göttlichen Wesens oder als das Feld der göttlichen Schöpferkraft erschien, so tritt in Jocelyn die Beschreibung und Schilderung der Landschaft und der Naturscenen verhältnißmäßig selbständig auf. In einer Reihe unvergleichlich schöner, mit wunderbarer Naturtreue bis in die kleinsten Einzelheiten ausgeführte Gemälde führt uns der Dichter bald die ärmlichen Hütten der Bergbewohner vor Augen, bald die großartigsten Alpenlandschaften, bald in der hellsten Beleuchtung der Mittagssonne, bald im dämmernden Licht des Mondes. Das Erwachen der reichen Alpennatur im Frühling, das Rauschen der Gebirgsströme, das Auf- und Abwogen der herbstlichen Nebel, das wüthende Brausen des winterlichen Orkans, die feier¬ liche Ruhe des Schneefeldes in den verschiedendsten Beleuchtungen — all' diese bald lieblichen, bald furchtbaren und wilden Naturscenen entfalten sich mit dramatischer Lebendigkeit und Anschaulichkeit vor unseren Augen. Der ganze Reichthum des französischen Sprachschatzes wird erschöpft, um der Schilderung die möglichste Genauigkeit und Anschaulichkeit zu geben, und man muß bekennen, daß von dem formgewandten Meister gehandhabt, die Sprache in der Darstellung aller in die Sinnenwelt fallenden Erscheinungen wirklich Außerordentliches leistet. Zuweilen gibt der Dichter so viel Detail, daß die Aufmerksamkeit von dem Kern der Schilderung abgelenkt wird; auch ist die häufige Verwendung nicht selten ziemlich gesuchter Gleichnisse zur Ver¬ deutlichung äußerer Gegenstände zu tadeln, da das Gleichnis) oft der 24*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/195>, abgerufen am 05.02.2025.