Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Mensch sein Schlachtopfer; seine Seele taucht wie Satan in den Ab¬
grund und sagt, Gott und dem Lichte entfremdet, der Hoffnung ewiges
Lebewohl; sein unüberwindliches Genie singt dem finstern Fürsten des Un¬
heils Lobgesänge. Lamartine verweist ihn auf die Schranken des Menschen
und seines Geistes. "Nicht wissen und dienen ist das Gesetz unseres Wesens.
Küsse das Joch, das du zerbrechen wolltest; steige herab vom Range der
Götter, den zu erklimmen deine Kühnheit sich unterfing. Beschränkt in sei¬
ner Natur, schwankend in seinen Wünschen, ist der Mensch ein gefallener
Gott, der sich des Himmels erinnert, sei es (wie in einer zu dem vorher¬
gehenden Gedanken, der jedes Entweder-Oder ausschließt, nicht ganz stim¬
menden Alternative hinzugefügt wird), daß er das Gedächtniß seiner ver¬
lorenen Bestimmung bewahrt, sei es, daß die unermeßliche Tiefe seines Ver¬
langens ihm seine künftige Größe weissagt; unvollkommen oder gefallen, der
Mensch ist ein großes Geheimniß. Aus Eden verbannt, sitzt er an den ver¬
botenen Thoren und hört von fern die harmonischen Seufzer der eigenen
Liebe und die himmlischen Concerte der Engel. Wehe dem, der aus der Ver¬
bannung des irdischen Lebens die Töne vernimmt, die aus der Welt seiner
Sehnsucht an sein Ohr klingen. Sobald er vom überirdischen Nektar ge¬
kostet hat, sträubt seine Natur sich gegen die Wirklichkeit. Er berauscht sich
im Schlummer mit Träumen und erkennt sich nicht wieder im Augenblicke
des Erwachens. Auch ich habe vom Giftbecher gekostet; auch meine Augen
haben sich geöffnet, ohne zu sehen; die Welt ist dem Hochmuth ein ver¬
schlossenes Buch, und alles Sinnen und Trachten hat mich nicht zur Erkennt¬
niß geführt. Ich habe Gott überall gesucht, ohne ihn zu begreifen, ich habe
überall das Uebel gesehen, wo das Gute doch sein konnte; ich habe Gott
gelästert, da ich ihn nicht erkennen konnte. Da senkte sich einst ein Licht von
Oben in meinen Busen und zwang mich zu segnen, was ich verflucht hatte.
Und ohne dem beseligenden Hauche Widerstand zu leisten, erhob sich meine
Harfe zu einem Lobgesang auf den Höchsten." Es folgt nun ein begeisterter,
ganz Ergebung in den göttlichen Willen athmender Hymnus: "Preis Dir in
Zeit und Ewigkeit, ewige Vernunft höchster Wille! Magst Du mich be¬
stimmt haben, die Welt zu erleuchten, oder ein vergessenes Atom zu sein,
Preis sei Dir! Preis sei Dir, wenn mich auch das Unglück verfolgt. Du
hast mich getränkt mit dem Wasser Deines Zornes. Preis Dir. Ich
habe den Tag Deiner Gerechtigkeit gesucht; er ist angebrochen zu meiner
Strafe. Preis Dir! -- Ein Wesen blieb mir; ich sah es langsam hin¬
schwinden und sterben. Verzeih' der Verzweiflung einen Augenblick der
Lästerung. Ich wagte -- ich bereue." Er schuf das Wasser, um zu fließen,
den Sturm, um zu brausen, die Sonne, um zu leuchten, den Menschen, um
zu leiden. Die unbelebte Natur gehorcht bewußtlos. "Ich allein opfere mit


der Mensch sein Schlachtopfer; seine Seele taucht wie Satan in den Ab¬
grund und sagt, Gott und dem Lichte entfremdet, der Hoffnung ewiges
Lebewohl; sein unüberwindliches Genie singt dem finstern Fürsten des Un¬
heils Lobgesänge. Lamartine verweist ihn auf die Schranken des Menschen
und seines Geistes. „Nicht wissen und dienen ist das Gesetz unseres Wesens.
Küsse das Joch, das du zerbrechen wolltest; steige herab vom Range der
Götter, den zu erklimmen deine Kühnheit sich unterfing. Beschränkt in sei¬
ner Natur, schwankend in seinen Wünschen, ist der Mensch ein gefallener
Gott, der sich des Himmels erinnert, sei es (wie in einer zu dem vorher¬
gehenden Gedanken, der jedes Entweder-Oder ausschließt, nicht ganz stim¬
menden Alternative hinzugefügt wird), daß er das Gedächtniß seiner ver¬
lorenen Bestimmung bewahrt, sei es, daß die unermeßliche Tiefe seines Ver¬
langens ihm seine künftige Größe weissagt; unvollkommen oder gefallen, der
Mensch ist ein großes Geheimniß. Aus Eden verbannt, sitzt er an den ver¬
botenen Thoren und hört von fern die harmonischen Seufzer der eigenen
Liebe und die himmlischen Concerte der Engel. Wehe dem, der aus der Ver¬
bannung des irdischen Lebens die Töne vernimmt, die aus der Welt seiner
Sehnsucht an sein Ohr klingen. Sobald er vom überirdischen Nektar ge¬
kostet hat, sträubt seine Natur sich gegen die Wirklichkeit. Er berauscht sich
im Schlummer mit Träumen und erkennt sich nicht wieder im Augenblicke
des Erwachens. Auch ich habe vom Giftbecher gekostet; auch meine Augen
haben sich geöffnet, ohne zu sehen; die Welt ist dem Hochmuth ein ver¬
schlossenes Buch, und alles Sinnen und Trachten hat mich nicht zur Erkennt¬
niß geführt. Ich habe Gott überall gesucht, ohne ihn zu begreifen, ich habe
überall das Uebel gesehen, wo das Gute doch sein konnte; ich habe Gott
gelästert, da ich ihn nicht erkennen konnte. Da senkte sich einst ein Licht von
Oben in meinen Busen und zwang mich zu segnen, was ich verflucht hatte.
Und ohne dem beseligenden Hauche Widerstand zu leisten, erhob sich meine
Harfe zu einem Lobgesang auf den Höchsten." Es folgt nun ein begeisterter,
ganz Ergebung in den göttlichen Willen athmender Hymnus: „Preis Dir in
Zeit und Ewigkeit, ewige Vernunft höchster Wille! Magst Du mich be¬
stimmt haben, die Welt zu erleuchten, oder ein vergessenes Atom zu sein,
Preis sei Dir! Preis sei Dir, wenn mich auch das Unglück verfolgt. Du
hast mich getränkt mit dem Wasser Deines Zornes. Preis Dir. Ich
habe den Tag Deiner Gerechtigkeit gesucht; er ist angebrochen zu meiner
Strafe. Preis Dir! — Ein Wesen blieb mir; ich sah es langsam hin¬
schwinden und sterben. Verzeih' der Verzweiflung einen Augenblick der
Lästerung. Ich wagte — ich bereue." Er schuf das Wasser, um zu fließen,
den Sturm, um zu brausen, die Sonne, um zu leuchten, den Menschen, um
zu leiden. Die unbelebte Natur gehorcht bewußtlos. „Ich allein opfere mit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0192" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121413"/>
          <p xml:id="ID_574" prev="#ID_573" next="#ID_575"> der Mensch sein Schlachtopfer; seine Seele taucht wie Satan in den Ab¬<lb/>
grund und sagt, Gott und dem Lichte entfremdet, der Hoffnung ewiges<lb/>
Lebewohl; sein unüberwindliches Genie singt dem finstern Fürsten des Un¬<lb/>
heils Lobgesänge. Lamartine verweist ihn auf die Schranken des Menschen<lb/>
und seines Geistes. &#x201E;Nicht wissen und dienen ist das Gesetz unseres Wesens.<lb/>
Küsse das Joch, das du zerbrechen wolltest; steige herab vom Range der<lb/>
Götter, den zu erklimmen deine Kühnheit sich unterfing. Beschränkt in sei¬<lb/>
ner Natur, schwankend in seinen Wünschen, ist der Mensch ein gefallener<lb/>
Gott, der sich des Himmels erinnert, sei es (wie in einer zu dem vorher¬<lb/>
gehenden Gedanken, der jedes Entweder-Oder ausschließt, nicht ganz stim¬<lb/>
menden Alternative hinzugefügt wird), daß er das Gedächtniß seiner ver¬<lb/>
lorenen Bestimmung bewahrt, sei es, daß die unermeßliche Tiefe seines Ver¬<lb/>
langens ihm seine künftige Größe weissagt; unvollkommen oder gefallen, der<lb/>
Mensch ist ein großes Geheimniß. Aus Eden verbannt, sitzt er an den ver¬<lb/>
botenen Thoren und hört von fern die harmonischen Seufzer der eigenen<lb/>
Liebe und die himmlischen Concerte der Engel. Wehe dem, der aus der Ver¬<lb/>
bannung des irdischen Lebens die Töne vernimmt, die aus der Welt seiner<lb/>
Sehnsucht an sein Ohr klingen. Sobald er vom überirdischen Nektar ge¬<lb/>
kostet hat, sträubt seine Natur sich gegen die Wirklichkeit. Er berauscht sich<lb/>
im Schlummer mit Träumen und erkennt sich nicht wieder im Augenblicke<lb/>
des Erwachens. Auch ich habe vom Giftbecher gekostet; auch meine Augen<lb/>
haben sich geöffnet, ohne zu sehen; die Welt ist dem Hochmuth ein ver¬<lb/>
schlossenes Buch, und alles Sinnen und Trachten hat mich nicht zur Erkennt¬<lb/>
niß geführt. Ich habe Gott überall gesucht, ohne ihn zu begreifen, ich habe<lb/>
überall das Uebel gesehen, wo das Gute doch sein konnte; ich habe Gott<lb/>
gelästert, da ich ihn nicht erkennen konnte. Da senkte sich einst ein Licht von<lb/>
Oben in meinen Busen und zwang mich zu segnen, was ich verflucht hatte.<lb/>
Und ohne dem beseligenden Hauche Widerstand zu leisten, erhob sich meine<lb/>
Harfe zu einem Lobgesang auf den Höchsten." Es folgt nun ein begeisterter,<lb/>
ganz Ergebung in den göttlichen Willen athmender Hymnus: &#x201E;Preis Dir in<lb/>
Zeit und Ewigkeit, ewige Vernunft höchster Wille! Magst Du mich be¬<lb/>
stimmt haben, die Welt zu erleuchten, oder ein vergessenes Atom zu sein,<lb/>
Preis sei Dir! Preis sei Dir, wenn mich auch das Unglück verfolgt. Du<lb/>
hast mich getränkt mit dem Wasser Deines Zornes. Preis Dir. Ich<lb/>
habe den Tag Deiner Gerechtigkeit gesucht; er ist angebrochen zu meiner<lb/>
Strafe. Preis Dir! &#x2014; Ein Wesen blieb mir; ich sah es langsam hin¬<lb/>
schwinden und sterben. Verzeih' der Verzweiflung einen Augenblick der<lb/>
Lästerung. Ich wagte &#x2014; ich bereue." Er schuf das Wasser, um zu fließen,<lb/>
den Sturm, um zu brausen, die Sonne, um zu leuchten, den Menschen, um<lb/>
zu leiden. Die unbelebte Natur gehorcht bewußtlos.  &#x201E;Ich allein opfere mit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0192] der Mensch sein Schlachtopfer; seine Seele taucht wie Satan in den Ab¬ grund und sagt, Gott und dem Lichte entfremdet, der Hoffnung ewiges Lebewohl; sein unüberwindliches Genie singt dem finstern Fürsten des Un¬ heils Lobgesänge. Lamartine verweist ihn auf die Schranken des Menschen und seines Geistes. „Nicht wissen und dienen ist das Gesetz unseres Wesens. Küsse das Joch, das du zerbrechen wolltest; steige herab vom Range der Götter, den zu erklimmen deine Kühnheit sich unterfing. Beschränkt in sei¬ ner Natur, schwankend in seinen Wünschen, ist der Mensch ein gefallener Gott, der sich des Himmels erinnert, sei es (wie in einer zu dem vorher¬ gehenden Gedanken, der jedes Entweder-Oder ausschließt, nicht ganz stim¬ menden Alternative hinzugefügt wird), daß er das Gedächtniß seiner ver¬ lorenen Bestimmung bewahrt, sei es, daß die unermeßliche Tiefe seines Ver¬ langens ihm seine künftige Größe weissagt; unvollkommen oder gefallen, der Mensch ist ein großes Geheimniß. Aus Eden verbannt, sitzt er an den ver¬ botenen Thoren und hört von fern die harmonischen Seufzer der eigenen Liebe und die himmlischen Concerte der Engel. Wehe dem, der aus der Ver¬ bannung des irdischen Lebens die Töne vernimmt, die aus der Welt seiner Sehnsucht an sein Ohr klingen. Sobald er vom überirdischen Nektar ge¬ kostet hat, sträubt seine Natur sich gegen die Wirklichkeit. Er berauscht sich im Schlummer mit Träumen und erkennt sich nicht wieder im Augenblicke des Erwachens. Auch ich habe vom Giftbecher gekostet; auch meine Augen haben sich geöffnet, ohne zu sehen; die Welt ist dem Hochmuth ein ver¬ schlossenes Buch, und alles Sinnen und Trachten hat mich nicht zur Erkennt¬ niß geführt. Ich habe Gott überall gesucht, ohne ihn zu begreifen, ich habe überall das Uebel gesehen, wo das Gute doch sein konnte; ich habe Gott gelästert, da ich ihn nicht erkennen konnte. Da senkte sich einst ein Licht von Oben in meinen Busen und zwang mich zu segnen, was ich verflucht hatte. Und ohne dem beseligenden Hauche Widerstand zu leisten, erhob sich meine Harfe zu einem Lobgesang auf den Höchsten." Es folgt nun ein begeisterter, ganz Ergebung in den göttlichen Willen athmender Hymnus: „Preis Dir in Zeit und Ewigkeit, ewige Vernunft höchster Wille! Magst Du mich be¬ stimmt haben, die Welt zu erleuchten, oder ein vergessenes Atom zu sein, Preis sei Dir! Preis sei Dir, wenn mich auch das Unglück verfolgt. Du hast mich getränkt mit dem Wasser Deines Zornes. Preis Dir. Ich habe den Tag Deiner Gerechtigkeit gesucht; er ist angebrochen zu meiner Strafe. Preis Dir! — Ein Wesen blieb mir; ich sah es langsam hin¬ schwinden und sterben. Verzeih' der Verzweiflung einen Augenblick der Lästerung. Ich wagte — ich bereue." Er schuf das Wasser, um zu fließen, den Sturm, um zu brausen, die Sonne, um zu leuchten, den Menschen, um zu leiden. Die unbelebte Natur gehorcht bewußtlos. „Ich allein opfere mit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/192
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/192>, abgerufen am 29.09.2024.