Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Kindheit durch den ununterbrochenen Verkehr mit der Natur und durch den
Einfluß seiner Mutter empfangen hatte. Die beständige Anregung und das
volle Austönen dieser Begeisterung war ihm bei seiner ausschließlich dichte¬
rischen mit unglaublicher Leichtigkeit schaffenden Begabung ein Bedürfniß.
Eine verstandesmäßige Analyse der dieser Begeisterung zu Grunde liegen¬
den Gedanken lag ihm fern. Die Metaphysik widerstrebte seiner Natur,
wie wir gerade unter den begabtesten Franzosen der neueren Zeit (wir
erinnern z. B. an Tocqueville, einen der glücklichsten Beobachter und scharfem
Denker in allen politischen Dingen) eine entschiedene Abneigung finden, die
höchsten Probleme, die dem menschlichen Geiste gestellt sind, zum Gegen¬
stande des Nachdenkens und der Forschung zu machen. Ueber alle Anwand¬
lungen des kritischen Zweifels erhob er sich durch die Phantasie.

Die religiösen Vorstellungen Lamartine's sind einfach und natürlich.
Die Macht und die Liebe Gottes, wie sie sich in der Natur und der Leitung
der menschlichen Schicksale ausspricht, die Hilfsbedürftigkeit des Menschen und
seine Erhebung zu Gott im Gebet, die Unterwerfung des Menschen unter
den göttlichen Willen, die Unsterblichkeit der Seele -- das sind die Gegen¬
stände, die er in der ersten Sammlung der Meditationen, wie auch in den
Harmonien vorzugsweise behandelt. Von poetischer Paraphrase der specifisch
katholischen Dogmen oder einer Begeisterung für katholisches Kirchenthum
und Hierarchie finden sich kaum vereinzelte Ansätze. Ebenfalls hält er sich
von der nebelhaften Mystik frei, wie er allerdings auch der Tiefe des Mysti¬
cismus entbehrt. Je einfacher nun aber der Inhalt ist, um so mehr ist die
Wirkung seiner Poesie von der Ausführung, von der Form bedingt. In der
modernen Lyrik (und Lamartine ist, selbst wo er Streifzüge in andere Gat¬
tungen der Poesie unternimmt, doch immer Lyriker) kann der Dichter seinen
Gegenstand in doppelter Weise zum Ausdruck bringen. Entweder er gibt
den poetischen Gedanken die Empfindung, welche ihn ergreift, in kürzester und
knappster Form wieder, oder spinnt seine Gefühle zu ausführlichen Betrach¬
tungen und Reflexionen aus. Ersteres vermag natürlich nur ein Dichter,
der wie Goethe, mit solcher Kraft und Klarheit empfindet, daß die zum
Bewußtsein gebrachte Empfindung gleichsam unwillkürlich die den Inhalt
entsprechendste Form annimmt, und daß das Bewußtwerden dessen, was
des Dichters Seele erregt, bereits zur dichterischen Production wird. Der
Leser muß beim ersten Blick von der Wahrheit der Empfindung frappirt sein.
Er muß durch den Ton des Gedichts so lebendig in des Dichters Stim¬
mung versetzt werden, daß er seine eigene Stimmung in die Worte des
Dichters gefaßt zu sehen glaubt. Das Gedicht soll die Situation, aus der
es hervorgegangen ist, und die Einwirkung dieser Situation auf des Dichters
Seele wiederspiegeln. Es soll die lyrischen Gedanken in der concretesten, mit


Kindheit durch den ununterbrochenen Verkehr mit der Natur und durch den
Einfluß seiner Mutter empfangen hatte. Die beständige Anregung und das
volle Austönen dieser Begeisterung war ihm bei seiner ausschließlich dichte¬
rischen mit unglaublicher Leichtigkeit schaffenden Begabung ein Bedürfniß.
Eine verstandesmäßige Analyse der dieser Begeisterung zu Grunde liegen¬
den Gedanken lag ihm fern. Die Metaphysik widerstrebte seiner Natur,
wie wir gerade unter den begabtesten Franzosen der neueren Zeit (wir
erinnern z. B. an Tocqueville, einen der glücklichsten Beobachter und scharfem
Denker in allen politischen Dingen) eine entschiedene Abneigung finden, die
höchsten Probleme, die dem menschlichen Geiste gestellt sind, zum Gegen¬
stande des Nachdenkens und der Forschung zu machen. Ueber alle Anwand¬
lungen des kritischen Zweifels erhob er sich durch die Phantasie.

Die religiösen Vorstellungen Lamartine's sind einfach und natürlich.
Die Macht und die Liebe Gottes, wie sie sich in der Natur und der Leitung
der menschlichen Schicksale ausspricht, die Hilfsbedürftigkeit des Menschen und
seine Erhebung zu Gott im Gebet, die Unterwerfung des Menschen unter
den göttlichen Willen, die Unsterblichkeit der Seele — das sind die Gegen¬
stände, die er in der ersten Sammlung der Meditationen, wie auch in den
Harmonien vorzugsweise behandelt. Von poetischer Paraphrase der specifisch
katholischen Dogmen oder einer Begeisterung für katholisches Kirchenthum
und Hierarchie finden sich kaum vereinzelte Ansätze. Ebenfalls hält er sich
von der nebelhaften Mystik frei, wie er allerdings auch der Tiefe des Mysti¬
cismus entbehrt. Je einfacher nun aber der Inhalt ist, um so mehr ist die
Wirkung seiner Poesie von der Ausführung, von der Form bedingt. In der
modernen Lyrik (und Lamartine ist, selbst wo er Streifzüge in andere Gat¬
tungen der Poesie unternimmt, doch immer Lyriker) kann der Dichter seinen
Gegenstand in doppelter Weise zum Ausdruck bringen. Entweder er gibt
den poetischen Gedanken die Empfindung, welche ihn ergreift, in kürzester und
knappster Form wieder, oder spinnt seine Gefühle zu ausführlichen Betrach¬
tungen und Reflexionen aus. Ersteres vermag natürlich nur ein Dichter,
der wie Goethe, mit solcher Kraft und Klarheit empfindet, daß die zum
Bewußtsein gebrachte Empfindung gleichsam unwillkürlich die den Inhalt
entsprechendste Form annimmt, und daß das Bewußtwerden dessen, was
des Dichters Seele erregt, bereits zur dichterischen Production wird. Der
Leser muß beim ersten Blick von der Wahrheit der Empfindung frappirt sein.
Er muß durch den Ton des Gedichts so lebendig in des Dichters Stim¬
mung versetzt werden, daß er seine eigene Stimmung in die Worte des
Dichters gefaßt zu sehen glaubt. Das Gedicht soll die Situation, aus der
es hervorgegangen ist, und die Einwirkung dieser Situation auf des Dichters
Seele wiederspiegeln. Es soll die lyrischen Gedanken in der concretesten, mit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0190" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121411"/>
          <p xml:id="ID_570" prev="#ID_569"> Kindheit durch den ununterbrochenen Verkehr mit der Natur und durch den<lb/>
Einfluß seiner Mutter empfangen hatte. Die beständige Anregung und das<lb/>
volle Austönen dieser Begeisterung war ihm bei seiner ausschließlich dichte¬<lb/>
rischen mit unglaublicher Leichtigkeit schaffenden Begabung ein Bedürfniß.<lb/>
Eine verstandesmäßige Analyse der dieser Begeisterung zu Grunde liegen¬<lb/>
den Gedanken lag ihm fern. Die Metaphysik widerstrebte seiner Natur,<lb/>
wie wir gerade unter den begabtesten Franzosen der neueren Zeit (wir<lb/>
erinnern z. B. an Tocqueville, einen der glücklichsten Beobachter und scharfem<lb/>
Denker in allen politischen Dingen) eine entschiedene Abneigung finden, die<lb/>
höchsten Probleme, die dem menschlichen Geiste gestellt sind, zum Gegen¬<lb/>
stande des Nachdenkens und der Forschung zu machen. Ueber alle Anwand¬<lb/>
lungen des kritischen Zweifels erhob er sich durch die Phantasie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_571" next="#ID_572"> Die religiösen Vorstellungen Lamartine's sind einfach und natürlich.<lb/>
Die Macht und die Liebe Gottes, wie sie sich in der Natur und der Leitung<lb/>
der menschlichen Schicksale ausspricht, die Hilfsbedürftigkeit des Menschen und<lb/>
seine Erhebung zu Gott im Gebet, die Unterwerfung des Menschen unter<lb/>
den göttlichen Willen, die Unsterblichkeit der Seele &#x2014; das sind die Gegen¬<lb/>
stände, die er in der ersten Sammlung der Meditationen, wie auch in den<lb/>
Harmonien vorzugsweise behandelt. Von poetischer Paraphrase der specifisch<lb/>
katholischen Dogmen oder einer Begeisterung für katholisches Kirchenthum<lb/>
und Hierarchie finden sich kaum vereinzelte Ansätze. Ebenfalls hält er sich<lb/>
von der nebelhaften Mystik frei, wie er allerdings auch der Tiefe des Mysti¬<lb/>
cismus entbehrt. Je einfacher nun aber der Inhalt ist, um so mehr ist die<lb/>
Wirkung seiner Poesie von der Ausführung, von der Form bedingt. In der<lb/>
modernen Lyrik (und Lamartine ist, selbst wo er Streifzüge in andere Gat¬<lb/>
tungen der Poesie unternimmt, doch immer Lyriker) kann der Dichter seinen<lb/>
Gegenstand in doppelter Weise zum Ausdruck bringen. Entweder er gibt<lb/>
den poetischen Gedanken die Empfindung, welche ihn ergreift, in kürzester und<lb/>
knappster Form wieder, oder spinnt seine Gefühle zu ausführlichen Betrach¬<lb/>
tungen und Reflexionen aus. Ersteres vermag natürlich nur ein Dichter,<lb/>
der wie Goethe, mit solcher Kraft und Klarheit empfindet, daß die zum<lb/>
Bewußtsein gebrachte Empfindung gleichsam unwillkürlich die den Inhalt<lb/>
entsprechendste Form annimmt, und daß das Bewußtwerden dessen, was<lb/>
des Dichters Seele erregt, bereits zur dichterischen Production wird. Der<lb/>
Leser muß beim ersten Blick von der Wahrheit der Empfindung frappirt sein.<lb/>
Er muß durch den Ton des Gedichts so lebendig in des Dichters Stim¬<lb/>
mung versetzt werden, daß er seine eigene Stimmung in die Worte des<lb/>
Dichters gefaßt zu sehen glaubt. Das Gedicht soll die Situation, aus der<lb/>
es hervorgegangen ist, und die Einwirkung dieser Situation auf des Dichters<lb/>
Seele wiederspiegeln. Es soll die lyrischen Gedanken in der concretesten, mit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0190] Kindheit durch den ununterbrochenen Verkehr mit der Natur und durch den Einfluß seiner Mutter empfangen hatte. Die beständige Anregung und das volle Austönen dieser Begeisterung war ihm bei seiner ausschließlich dichte¬ rischen mit unglaublicher Leichtigkeit schaffenden Begabung ein Bedürfniß. Eine verstandesmäßige Analyse der dieser Begeisterung zu Grunde liegen¬ den Gedanken lag ihm fern. Die Metaphysik widerstrebte seiner Natur, wie wir gerade unter den begabtesten Franzosen der neueren Zeit (wir erinnern z. B. an Tocqueville, einen der glücklichsten Beobachter und scharfem Denker in allen politischen Dingen) eine entschiedene Abneigung finden, die höchsten Probleme, die dem menschlichen Geiste gestellt sind, zum Gegen¬ stande des Nachdenkens und der Forschung zu machen. Ueber alle Anwand¬ lungen des kritischen Zweifels erhob er sich durch die Phantasie. Die religiösen Vorstellungen Lamartine's sind einfach und natürlich. Die Macht und die Liebe Gottes, wie sie sich in der Natur und der Leitung der menschlichen Schicksale ausspricht, die Hilfsbedürftigkeit des Menschen und seine Erhebung zu Gott im Gebet, die Unterwerfung des Menschen unter den göttlichen Willen, die Unsterblichkeit der Seele — das sind die Gegen¬ stände, die er in der ersten Sammlung der Meditationen, wie auch in den Harmonien vorzugsweise behandelt. Von poetischer Paraphrase der specifisch katholischen Dogmen oder einer Begeisterung für katholisches Kirchenthum und Hierarchie finden sich kaum vereinzelte Ansätze. Ebenfalls hält er sich von der nebelhaften Mystik frei, wie er allerdings auch der Tiefe des Mysti¬ cismus entbehrt. Je einfacher nun aber der Inhalt ist, um so mehr ist die Wirkung seiner Poesie von der Ausführung, von der Form bedingt. In der modernen Lyrik (und Lamartine ist, selbst wo er Streifzüge in andere Gat¬ tungen der Poesie unternimmt, doch immer Lyriker) kann der Dichter seinen Gegenstand in doppelter Weise zum Ausdruck bringen. Entweder er gibt den poetischen Gedanken die Empfindung, welche ihn ergreift, in kürzester und knappster Form wieder, oder spinnt seine Gefühle zu ausführlichen Betrach¬ tungen und Reflexionen aus. Ersteres vermag natürlich nur ein Dichter, der wie Goethe, mit solcher Kraft und Klarheit empfindet, daß die zum Bewußtsein gebrachte Empfindung gleichsam unwillkürlich die den Inhalt entsprechendste Form annimmt, und daß das Bewußtwerden dessen, was des Dichters Seele erregt, bereits zur dichterischen Production wird. Der Leser muß beim ersten Blick von der Wahrheit der Empfindung frappirt sein. Er muß durch den Ton des Gedichts so lebendig in des Dichters Stim¬ mung versetzt werden, daß er seine eigene Stimmung in die Worte des Dichters gefaßt zu sehen glaubt. Das Gedicht soll die Situation, aus der es hervorgegangen ist, und die Einwirkung dieser Situation auf des Dichters Seele wiederspiegeln. Es soll die lyrischen Gedanken in der concretesten, mit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/190
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/190>, abgerufen am 05.02.2025.