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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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reicht bis in die Mittagshöhe der neuen Richtung. Mit ihrem Verfall wer¬
den allmälig auch die Accorde seiner Leier dumpfer und matter, bis sie end¬
lich ganz verstummen. Als unter dem zweiten Kaiserthum der Materialis¬
mus und das unverhüllteste Nützlichkeitsprincip jedes ideale Streben geflissent¬
lich zu unterdrücken suchten, und -- da die Romantik bereits ihre Triebkraft
verloren hatte, ohne dem französischen Geiste ein dauerndes ideales Streben
eingehaucht zu haben, -- mit leichter Mühe wirklich unterdrückt hat, war
Lamartine bereits todt. Seine dichterische Kraft war erlahmt mit der
Schule, der er, ohne ihr im strengen Sinne des Wortes anzugehören, nahe
gestanden hatte. Er sah -- und das ist die tiefe Logik in dem Leben dieses
einst so hoch-, ja nicht selten überschwänglich gefeierten Dichters -- mit
dem Verfall der nationalen Poesie auch seine eigene Kraft versiegen. Er,
der zarteste, reizbarste, idealste aller französischen Dichter, der begeisterteste
Vorkämpfer wider den Materialismus auf allen Gebieten des Lebens, sah
sich gezwungen, seine letzten Kräfte daran zu setzen, um seine materielle
Existenz zu fristen. Aus dem begeisterten Dichter, der die irdischen Güter
nur als Mittel angesehen hatte, um sein ideales Streben mit dem Schim¬
mer äußeren Glanzes zu umgeben, war ein "rasch und flüchtig arbeiten¬
der Schriftsteller geworden, dem in seiner literarischen Thätigkeit die ein¬
zige Eristenzquelle übrig geblieben war. Grade wie in Frankreich die Ro¬
mantik abstirbt, ohne, soweit sich bis jetzt beurtheilen läßt, den Saamen
einer fortschreitenden Entwickelung gestreut zu haben, fand auch Lamartine,
nachdem er über den Standpunkt seiner Jugend hinausgewachsen war, die
Triebkraft zu einer Metamorphose, zu einem auf ein höheres Kunstideal gerichte¬
ten Fortschritt nicht mehr in sich. Er beklagte Frankreichs Verfall und Knecht¬
schaft; und sein Loos, gleichviel ob durch eigene Schuld oder in Folge der
Gewalt äußerer Verhältnisse, war ein Spiegelbild Frankreichs, ein Mikrokos¬
mus des französischen Treibens geworden; nur mit dem Unterschiede, daß
er auch in der Zerrüttung seiner äußeren Umstände seine Seele frei erhielt
und seine Feder niemals in dem Dienst des Despotismus oder der Gemein¬
heit erniedrigte.

Alphonse de Lamartine, geboren 1792, stammte aus einer begüterten
Adelsfamilie, deren Mitglieder indessen, da sie sich von dem Treiben des
Versailler Hofes fern hielten, und nach einigen Jahren Militärdienstes
meist auf ihren Gütern zurückgezogen lebten, eine Rolle in der Geschichte des
Äueien regiiris nicht gespielt haben. Sein Vater, wie seine Oheime huldigten
den freieren Anschauungen, die in dem liberalen Theil des französischen
Adels vorherrschend waren. Wie ihre Vorbilder Lally Tollendal, Mounier:c.
sagten sie sich von der Bewegung los, als diese die Grenze überschritt,
welche die aristokratisch constitutionelle Partei ihr vorschreiben wollte,


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reicht bis in die Mittagshöhe der neuen Richtung. Mit ihrem Verfall wer¬
den allmälig auch die Accorde seiner Leier dumpfer und matter, bis sie end¬
lich ganz verstummen. Als unter dem zweiten Kaiserthum der Materialis¬
mus und das unverhüllteste Nützlichkeitsprincip jedes ideale Streben geflissent¬
lich zu unterdrücken suchten, und — da die Romantik bereits ihre Triebkraft
verloren hatte, ohne dem französischen Geiste ein dauerndes ideales Streben
eingehaucht zu haben, — mit leichter Mühe wirklich unterdrückt hat, war
Lamartine bereits todt. Seine dichterische Kraft war erlahmt mit der
Schule, der er, ohne ihr im strengen Sinne des Wortes anzugehören, nahe
gestanden hatte. Er sah — und das ist die tiefe Logik in dem Leben dieses
einst so hoch-, ja nicht selten überschwänglich gefeierten Dichters — mit
dem Verfall der nationalen Poesie auch seine eigene Kraft versiegen. Er,
der zarteste, reizbarste, idealste aller französischen Dichter, der begeisterteste
Vorkämpfer wider den Materialismus auf allen Gebieten des Lebens, sah
sich gezwungen, seine letzten Kräfte daran zu setzen, um seine materielle
Existenz zu fristen. Aus dem begeisterten Dichter, der die irdischen Güter
nur als Mittel angesehen hatte, um sein ideales Streben mit dem Schim¬
mer äußeren Glanzes zu umgeben, war ein "rasch und flüchtig arbeiten¬
der Schriftsteller geworden, dem in seiner literarischen Thätigkeit die ein¬
zige Eristenzquelle übrig geblieben war. Grade wie in Frankreich die Ro¬
mantik abstirbt, ohne, soweit sich bis jetzt beurtheilen läßt, den Saamen
einer fortschreitenden Entwickelung gestreut zu haben, fand auch Lamartine,
nachdem er über den Standpunkt seiner Jugend hinausgewachsen war, die
Triebkraft zu einer Metamorphose, zu einem auf ein höheres Kunstideal gerichte¬
ten Fortschritt nicht mehr in sich. Er beklagte Frankreichs Verfall und Knecht¬
schaft; und sein Loos, gleichviel ob durch eigene Schuld oder in Folge der
Gewalt äußerer Verhältnisse, war ein Spiegelbild Frankreichs, ein Mikrokos¬
mus des französischen Treibens geworden; nur mit dem Unterschiede, daß
er auch in der Zerrüttung seiner äußeren Umstände seine Seele frei erhielt
und seine Feder niemals in dem Dienst des Despotismus oder der Gemein¬
heit erniedrigte.

Alphonse de Lamartine, geboren 1792, stammte aus einer begüterten
Adelsfamilie, deren Mitglieder indessen, da sie sich von dem Treiben des
Versailler Hofes fern hielten, und nach einigen Jahren Militärdienstes
meist auf ihren Gütern zurückgezogen lebten, eine Rolle in der Geschichte des
Äueien regiiris nicht gespielt haben. Sein Vater, wie seine Oheime huldigten
den freieren Anschauungen, die in dem liberalen Theil des französischen
Adels vorherrschend waren. Wie ihre Vorbilder Lally Tollendal, Mounier:c.
sagten sie sich von der Bewegung los, als diese die Grenze überschritt,
welche die aristokratisch constitutionelle Partei ihr vorschreiben wollte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/187>, abgerufen am 29.09.2024.