Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

provisorische Concession mit der Zeit den Charakter eines Definitivums an¬
nehmen werde. Die Russen wissen die polnische Widerstandskraft und das
polnische Geschick, mit mißliebigen Gesetzen Versteckens zu spielen, ebenso
genau abzuschätzen, wie die Lahmheit der eigenen Initiative und die Armuth
an brauchbaren Streitkräften. Steht die Sache doch noch gegenwärtig so,
daß (die Universität Dorpat ausgenommen) nahezu die Hälfte aller akademi¬
schen Lehrstühle unbesetzt ist und die sämmtlichen russischen Hochschulen zu¬
sammen nur einen einzigen Professor des römischen Rechts haben! Wo soll
da der Ueberfluß von Kräften herkommen, den man zur Russification der
ausgedehnten Grenzländer nöthig hat? -- In den Ostseeprovinzen hat
neuerdings eine Demonstration stattgefunden, die in den russischen Haupt¬
städten um so peinlicher berührt hat, als ihr absolut nicht beizukommen war.
Zur Feier der vor fünfzig Jahren erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft in
Livland ist in Dorpat ein chemisches Sängerfest gefeiert worden, zu dem nicht
die Deutschen, sondern die Ehlen die Initiative ergriffen und das den
Charakter eines Verbrüderungsfestes der beiden Nationalitäten angenommen
hat, die man in Moskau für Todfeinde auszugeben gewohnt ist, obgleich
sie durch das gleiche religiöse Bekenntniß die gleiche Bildungssubstanz und
eine siebenhundertjährige gemeinsame Geschichte eng genug mit einander ver¬
bunden sind. Der Krieg, den die russische Demokratie gegen das baltisch¬
deutsche Element führt, ist ja im Namen der "unterdrückten Letten und
Ehlen" unternommen worden, und wenn diese sich auf die Seite ihrer angeb¬
lichen Unterdrücker stellen, ist der Feldzugsplan, den die Politiker an der
Newa und Moskwa ausgearbeitet haben, so gut wie unmöglich geworden,
denn ein Kampf gegen Deutsche, Letten und Ehlen hat wenig Aussicht auf
Erfolg. Für das Ungeschick, mit welchem dieser Kampf geführt wird, ist
eine im Lause der letzten Wochen erfundene neue Censurmaaßcegel besonders
charakteristisch: sämmtliche in Dorpat, Pernau, Reval und Mitau erscheinende
lettische und chemische Zeitschriften werden in Riga der Präventivcensur unter¬
zogen, und zwar der Censur durch Convertiten der griechischen Kirche, welche
als Seminarlehrer direct unter dem Einfluß des Rigaer griechischen Erz-
bischofs stehen. Die beträchtlichen Entfernungen, welche Riga von den übri¬
gen Druckorten entfernen, machen natürlich jeden Aufschwung der lettischen
und chemischen Journale unmöglich und der blinde Eifer der "rechtgläubigen"
Censoren gegen jedes Preßerzeugniß in protestantischen Sinn belehrt das
das Landvolk darüber, wo es die wahren Feinde seiner Bildung zu suchen
hat. -- Einen herben Verlust haben die baltischen Provinzen neuerdings
durch den Tod des im Jahre 1864 seiner nationalen Gesinnung wegen ab¬
gesetzten livländischen Generalsuperintendenten Dr. Walter erlitten, eines frei¬
sinnigen und patriotischen Theologen, der sich namentlich um die Sache der


provisorische Concession mit der Zeit den Charakter eines Definitivums an¬
nehmen werde. Die Russen wissen die polnische Widerstandskraft und das
polnische Geschick, mit mißliebigen Gesetzen Versteckens zu spielen, ebenso
genau abzuschätzen, wie die Lahmheit der eigenen Initiative und die Armuth
an brauchbaren Streitkräften. Steht die Sache doch noch gegenwärtig so,
daß (die Universität Dorpat ausgenommen) nahezu die Hälfte aller akademi¬
schen Lehrstühle unbesetzt ist und die sämmtlichen russischen Hochschulen zu¬
sammen nur einen einzigen Professor des römischen Rechts haben! Wo soll
da der Ueberfluß von Kräften herkommen, den man zur Russification der
ausgedehnten Grenzländer nöthig hat? — In den Ostseeprovinzen hat
neuerdings eine Demonstration stattgefunden, die in den russischen Haupt¬
städten um so peinlicher berührt hat, als ihr absolut nicht beizukommen war.
Zur Feier der vor fünfzig Jahren erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft in
Livland ist in Dorpat ein chemisches Sängerfest gefeiert worden, zu dem nicht
die Deutschen, sondern die Ehlen die Initiative ergriffen und das den
Charakter eines Verbrüderungsfestes der beiden Nationalitäten angenommen
hat, die man in Moskau für Todfeinde auszugeben gewohnt ist, obgleich
sie durch das gleiche religiöse Bekenntniß die gleiche Bildungssubstanz und
eine siebenhundertjährige gemeinsame Geschichte eng genug mit einander ver¬
bunden sind. Der Krieg, den die russische Demokratie gegen das baltisch¬
deutsche Element führt, ist ja im Namen der „unterdrückten Letten und
Ehlen" unternommen worden, und wenn diese sich auf die Seite ihrer angeb¬
lichen Unterdrücker stellen, ist der Feldzugsplan, den die Politiker an der
Newa und Moskwa ausgearbeitet haben, so gut wie unmöglich geworden,
denn ein Kampf gegen Deutsche, Letten und Ehlen hat wenig Aussicht auf
Erfolg. Für das Ungeschick, mit welchem dieser Kampf geführt wird, ist
eine im Lause der letzten Wochen erfundene neue Censurmaaßcegel besonders
charakteristisch: sämmtliche in Dorpat, Pernau, Reval und Mitau erscheinende
lettische und chemische Zeitschriften werden in Riga der Präventivcensur unter¬
zogen, und zwar der Censur durch Convertiten der griechischen Kirche, welche
als Seminarlehrer direct unter dem Einfluß des Rigaer griechischen Erz-
bischofs stehen. Die beträchtlichen Entfernungen, welche Riga von den übri¬
gen Druckorten entfernen, machen natürlich jeden Aufschwung der lettischen
und chemischen Journale unmöglich und der blinde Eifer der „rechtgläubigen"
Censoren gegen jedes Preßerzeugniß in protestantischen Sinn belehrt das
das Landvolk darüber, wo es die wahren Feinde seiner Bildung zu suchen
hat. — Einen herben Verlust haben die baltischen Provinzen neuerdings
durch den Tod des im Jahre 1864 seiner nationalen Gesinnung wegen ab¬
gesetzten livländischen Generalsuperintendenten Dr. Walter erlitten, eines frei¬
sinnigen und patriotischen Theologen, der sich namentlich um die Sache der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0178" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121399"/>
          <p xml:id="ID_546" prev="#ID_545" next="#ID_547"> provisorische Concession mit der Zeit den Charakter eines Definitivums an¬<lb/>
nehmen werde. Die Russen wissen die polnische Widerstandskraft und das<lb/>
polnische Geschick, mit mißliebigen Gesetzen Versteckens zu spielen, ebenso<lb/>
genau abzuschätzen, wie die Lahmheit der eigenen Initiative und die Armuth<lb/>
an brauchbaren Streitkräften. Steht die Sache doch noch gegenwärtig so,<lb/>
daß (die Universität Dorpat ausgenommen) nahezu die Hälfte aller akademi¬<lb/>
schen Lehrstühle unbesetzt ist und die sämmtlichen russischen Hochschulen zu¬<lb/>
sammen nur einen einzigen Professor des römischen Rechts haben! Wo soll<lb/>
da der Ueberfluß von Kräften herkommen, den man zur Russification der<lb/>
ausgedehnten Grenzländer nöthig hat? &#x2014; In den Ostseeprovinzen hat<lb/>
neuerdings eine Demonstration stattgefunden, die in den russischen Haupt¬<lb/>
städten um so peinlicher berührt hat, als ihr absolut nicht beizukommen war.<lb/>
Zur Feier der vor fünfzig Jahren erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft in<lb/>
Livland ist in Dorpat ein chemisches Sängerfest gefeiert worden, zu dem nicht<lb/>
die Deutschen, sondern die Ehlen die Initiative ergriffen und das den<lb/>
Charakter eines Verbrüderungsfestes der beiden Nationalitäten angenommen<lb/>
hat, die man in Moskau für Todfeinde auszugeben gewohnt ist, obgleich<lb/>
sie durch das gleiche religiöse Bekenntniß die gleiche Bildungssubstanz und<lb/>
eine siebenhundertjährige gemeinsame Geschichte eng genug mit einander ver¬<lb/>
bunden sind. Der Krieg, den die russische Demokratie gegen das baltisch¬<lb/>
deutsche Element führt, ist ja im Namen der &#x201E;unterdrückten Letten und<lb/>
Ehlen" unternommen worden, und wenn diese sich auf die Seite ihrer angeb¬<lb/>
lichen Unterdrücker stellen, ist der Feldzugsplan, den die Politiker an der<lb/>
Newa und Moskwa ausgearbeitet haben, so gut wie unmöglich geworden,<lb/>
denn ein Kampf gegen Deutsche, Letten und Ehlen hat wenig Aussicht auf<lb/>
Erfolg. Für das Ungeschick, mit welchem dieser Kampf geführt wird, ist<lb/>
eine im Lause der letzten Wochen erfundene neue Censurmaaßcegel besonders<lb/>
charakteristisch: sämmtliche in Dorpat, Pernau, Reval und Mitau erscheinende<lb/>
lettische und chemische Zeitschriften werden in Riga der Präventivcensur unter¬<lb/>
zogen, und zwar der Censur durch Convertiten der griechischen Kirche, welche<lb/>
als Seminarlehrer direct unter dem Einfluß des Rigaer griechischen Erz-<lb/>
bischofs stehen. Die beträchtlichen Entfernungen, welche Riga von den übri¬<lb/>
gen Druckorten entfernen, machen natürlich jeden Aufschwung der lettischen<lb/>
und chemischen Journale unmöglich und der blinde Eifer der &#x201E;rechtgläubigen"<lb/>
Censoren gegen jedes Preßerzeugniß in protestantischen Sinn belehrt das<lb/>
das Landvolk darüber, wo es die wahren Feinde seiner Bildung zu suchen<lb/>
hat. &#x2014; Einen herben Verlust haben die baltischen Provinzen neuerdings<lb/>
durch den Tod des im Jahre 1864 seiner nationalen Gesinnung wegen ab¬<lb/>
gesetzten livländischen Generalsuperintendenten Dr. Walter erlitten, eines frei¬<lb/>
sinnigen und patriotischen Theologen, der sich namentlich um die Sache der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0178] provisorische Concession mit der Zeit den Charakter eines Definitivums an¬ nehmen werde. Die Russen wissen die polnische Widerstandskraft und das polnische Geschick, mit mißliebigen Gesetzen Versteckens zu spielen, ebenso genau abzuschätzen, wie die Lahmheit der eigenen Initiative und die Armuth an brauchbaren Streitkräften. Steht die Sache doch noch gegenwärtig so, daß (die Universität Dorpat ausgenommen) nahezu die Hälfte aller akademi¬ schen Lehrstühle unbesetzt ist und die sämmtlichen russischen Hochschulen zu¬ sammen nur einen einzigen Professor des römischen Rechts haben! Wo soll da der Ueberfluß von Kräften herkommen, den man zur Russification der ausgedehnten Grenzländer nöthig hat? — In den Ostseeprovinzen hat neuerdings eine Demonstration stattgefunden, die in den russischen Haupt¬ städten um so peinlicher berührt hat, als ihr absolut nicht beizukommen war. Zur Feier der vor fünfzig Jahren erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft in Livland ist in Dorpat ein chemisches Sängerfest gefeiert worden, zu dem nicht die Deutschen, sondern die Ehlen die Initiative ergriffen und das den Charakter eines Verbrüderungsfestes der beiden Nationalitäten angenommen hat, die man in Moskau für Todfeinde auszugeben gewohnt ist, obgleich sie durch das gleiche religiöse Bekenntniß die gleiche Bildungssubstanz und eine siebenhundertjährige gemeinsame Geschichte eng genug mit einander ver¬ bunden sind. Der Krieg, den die russische Demokratie gegen das baltisch¬ deutsche Element führt, ist ja im Namen der „unterdrückten Letten und Ehlen" unternommen worden, und wenn diese sich auf die Seite ihrer angeb¬ lichen Unterdrücker stellen, ist der Feldzugsplan, den die Politiker an der Newa und Moskwa ausgearbeitet haben, so gut wie unmöglich geworden, denn ein Kampf gegen Deutsche, Letten und Ehlen hat wenig Aussicht auf Erfolg. Für das Ungeschick, mit welchem dieser Kampf geführt wird, ist eine im Lause der letzten Wochen erfundene neue Censurmaaßcegel besonders charakteristisch: sämmtliche in Dorpat, Pernau, Reval und Mitau erscheinende lettische und chemische Zeitschriften werden in Riga der Präventivcensur unter¬ zogen, und zwar der Censur durch Convertiten der griechischen Kirche, welche als Seminarlehrer direct unter dem Einfluß des Rigaer griechischen Erz- bischofs stehen. Die beträchtlichen Entfernungen, welche Riga von den übri¬ gen Druckorten entfernen, machen natürlich jeden Aufschwung der lettischen und chemischen Journale unmöglich und der blinde Eifer der „rechtgläubigen" Censoren gegen jedes Preßerzeugniß in protestantischen Sinn belehrt das das Landvolk darüber, wo es die wahren Feinde seiner Bildung zu suchen hat. — Einen herben Verlust haben die baltischen Provinzen neuerdings durch den Tod des im Jahre 1864 seiner nationalen Gesinnung wegen ab¬ gesetzten livländischen Generalsuperintendenten Dr. Walter erlitten, eines frei¬ sinnigen und patriotischen Theologen, der sich namentlich um die Sache der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/178
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/178>, abgerufen am 05.02.2025.