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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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weiß selbst nicht, was ich denken soll. Das Schreiben an den Baron Mackau.
eines der jüngsten und unbedeutendsten Mitglieder der bisherigen Ma¬
jorität, ließ ein striktes Beharren bei dem bisherigen System und dessen
Männern erwarten; der Brief an den Präsidenten Schneider betonte dagegen
das Gewicht, welches der Kaiser auf die Meinung des gesetzgebenden Körpers
legte. Dann erfolgte der Zusammentritt dieses Körpers und eine wilde
Fluth von Drohungen und Unzufriedenheitsäußerungen' ergoß sich über die
Regierung, welche trotz der verwerflichen und unredlichen Mittel, die sie
beim Wahlkampf angewandt hatte, moralisch unterlegen war. Das Gefühl,
daß es in der bisherigen Weise nicht fortgehen könne und daß eine Entschei¬
dung, eine verhängnisvolle Krisis des inneren Staatslebens bevorstehe, be¬
mächtigt sich aller Theile der zu den Wahlprüfungen einberufenen Volks¬
vertretung. Bis in die Reihen der Majorität greift die Furcht um sich,
hinter den Verhältnissen zurückzubleiben, von deren Entwickelung sich doch
Niemand eine deutliche Vorstellung machen kann und denen Niemand ge¬
wachsen ist. Die Tiers-Partei bringt eine Jnterpellation ein, welche Ver¬
antwortlichkeit der Minister verlangt; nach einem Augenblick verlegenen
Schweigens drängt man sich von allen Seiten zur Unterzeichnung derselben,
selbst die Majorität wird mit fortgerissen und identificirt sich mit einem
Verlangen, welches über dieselbe Politik, zu der sie sich bisher bekannt hatte,
rücksichtslos und unbarmherzig den Stab bricht. Herr von Mackau, der
Musterdeputirte von Vorgestern, der Mann, den der Kaiser zum Zeugen für
die Nothwendigkeit seiner Unnachgiebigkeit aufgerufen hatte, unterschreibt, der
Herzog von Mouchy unterschreibt auch und ihnen folgt eine ganze Anzahl von
Leuten, die eingestandener Maaßen die Wetterfahne zum Regulator ihrer
Handlungen und Meinungen gemacht hat. Die Regierung, deren Weisheit
bisher darin bestanden hatte, leise Winke zu ignoriren und es zum Aeußersten
kommen zu lassen, ehe sie von ihrer vorgefaßten Meinung abgeht, -- die
Regierung wartet nicht einmal ab, daß diese Jnterpellation der Kam¬
mer übergeben und nach förmlicher Constituirung derselben in den Bu¬
reaus geprüft wird; sie antwortet, noch bevor sie eigentlich gefragt
worden ist, und antwortet mit einer ganzen Reihe von Zugeständnissen,
die sowohl den Einfluß des gesetzgebenden Körpers auf, die Staats¬
verwaltung erhöhen, als dem Selbstgefühl des Hauses genug thun sollen.
Während ganz Paris unter dem Eindruck dieser kaiserlichen Botschaft
steht, die verschiedensten Ansichten über dieselbe abgegeben werden, die
öffentliche Meinung sich noch nicht geklärt hat, heißt es bereits, daß das alte
Cabinet in voller Auflösung begriffen sei und daß der Kaiser sich nach neuen
Rathgebern umsehe. Den Grund dieser Eile weiß Niemand anzugeben, denn
noch sind die Wahlprüfungen nicht beendet, noch ist die neue Kammer nicht


weiß selbst nicht, was ich denken soll. Das Schreiben an den Baron Mackau.
eines der jüngsten und unbedeutendsten Mitglieder der bisherigen Ma¬
jorität, ließ ein striktes Beharren bei dem bisherigen System und dessen
Männern erwarten; der Brief an den Präsidenten Schneider betonte dagegen
das Gewicht, welches der Kaiser auf die Meinung des gesetzgebenden Körpers
legte. Dann erfolgte der Zusammentritt dieses Körpers und eine wilde
Fluth von Drohungen und Unzufriedenheitsäußerungen' ergoß sich über die
Regierung, welche trotz der verwerflichen und unredlichen Mittel, die sie
beim Wahlkampf angewandt hatte, moralisch unterlegen war. Das Gefühl,
daß es in der bisherigen Weise nicht fortgehen könne und daß eine Entschei¬
dung, eine verhängnisvolle Krisis des inneren Staatslebens bevorstehe, be¬
mächtigt sich aller Theile der zu den Wahlprüfungen einberufenen Volks¬
vertretung. Bis in die Reihen der Majorität greift die Furcht um sich,
hinter den Verhältnissen zurückzubleiben, von deren Entwickelung sich doch
Niemand eine deutliche Vorstellung machen kann und denen Niemand ge¬
wachsen ist. Die Tiers-Partei bringt eine Jnterpellation ein, welche Ver¬
antwortlichkeit der Minister verlangt; nach einem Augenblick verlegenen
Schweigens drängt man sich von allen Seiten zur Unterzeichnung derselben,
selbst die Majorität wird mit fortgerissen und identificirt sich mit einem
Verlangen, welches über dieselbe Politik, zu der sie sich bisher bekannt hatte,
rücksichtslos und unbarmherzig den Stab bricht. Herr von Mackau, der
Musterdeputirte von Vorgestern, der Mann, den der Kaiser zum Zeugen für
die Nothwendigkeit seiner Unnachgiebigkeit aufgerufen hatte, unterschreibt, der
Herzog von Mouchy unterschreibt auch und ihnen folgt eine ganze Anzahl von
Leuten, die eingestandener Maaßen die Wetterfahne zum Regulator ihrer
Handlungen und Meinungen gemacht hat. Die Regierung, deren Weisheit
bisher darin bestanden hatte, leise Winke zu ignoriren und es zum Aeußersten
kommen zu lassen, ehe sie von ihrer vorgefaßten Meinung abgeht, — die
Regierung wartet nicht einmal ab, daß diese Jnterpellation der Kam¬
mer übergeben und nach förmlicher Constituirung derselben in den Bu¬
reaus geprüft wird; sie antwortet, noch bevor sie eigentlich gefragt
worden ist, und antwortet mit einer ganzen Reihe von Zugeständnissen,
die sowohl den Einfluß des gesetzgebenden Körpers auf, die Staats¬
verwaltung erhöhen, als dem Selbstgefühl des Hauses genug thun sollen.
Während ganz Paris unter dem Eindruck dieser kaiserlichen Botschaft
steht, die verschiedensten Ansichten über dieselbe abgegeben werden, die
öffentliche Meinung sich noch nicht geklärt hat, heißt es bereits, daß das alte
Cabinet in voller Auflösung begriffen sei und daß der Kaiser sich nach neuen
Rathgebern umsehe. Den Grund dieser Eile weiß Niemand anzugeben, denn
noch sind die Wahlprüfungen nicht beendet, noch ist die neue Kammer nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/170>, abgerufen am 24.08.2024.